Die 1670er Jahre markieren einen dramatischen Endpunkt für Hollands jahrzehntelange Expansionsbestrebungen in Amerika. Nach dem Debakel des Brasilienfeldzuges (1630-1654) und der Niederlage in den Hegemonialkriegen gegen England und Frankreich (1672-1679) scheint auch das Schicksal der niederländischen Westindien-Compagnie (WIC) besiegelt. Die allprovinziale Handelsgesellschaft der Niederländer für den Atlantikraum ist rettungslos überschuldet. Nach einem spektakulären Konkurs muss sie neu gegründet werden; bisher an private Siedlungsunternehmer vergebene Grundherrschaften, die sogenannten Patronate, sind infolge des Krieges wirtschaftlich ruiniert ─ oder niederländischer Kontrolle gänzlich entzogen.
Sint Eustatius als karibisches Handelsdrehkreuz der WIC
Statt weiterhin auf die Eroberung großflächiger Plantagenwirtschaften zu setzen, verlegt sich die 1674 neu formierte Westindien-Compagnie verstärkt auf den Handel. Eine wichtige Funktion kommt dabei dem nur 34 km² großen Antilleneiland Sint Eustatius zu. Ab den 1670er und 1680er Jahren entwickelt sich dort allmählich ein wichtiges Drehkreuz für den interkolonialen Handel zwischen Amerika, Westafrika und Europa. Vor allem in Kriegszeiten sichert das formell als neutral geltende Sint Eustatius die Ausfuhr der antillianischen Zuckerernten; ingleichen garantiert Statias gewiefte Inseloligarchie die Versorgung der Pflanzer und ihrer Sklaven mit Nahrungs- und Konsumgütern aller Art. Allmählich entsteht so auf Sint Eustatius das wichtigste Handelsemporium der Karibik.
Die Warenmagazine und Packhäuser von Oranjestad
Das geschäftige Treiben auf der Reede von Oranjestad und entlang der Warenmagazine und Packhäuser der Lower Town zieht immer mehr Menschen aus ganz Europa und dem Antillenraum an. Die Einwohnerzahlen der kleinen Siedlung rund um das Fort von Oranjestad steigen im 18. Jahrhundert kontinuierlich an. Ein erster Höhepunkt wird während des Siebenjährigen Krieges erreicht: In dieser Zeit leben bereits über 2.000 Menschen auf Sint Eustatius. Etwa 65 % von ihnen sind afrikanische Sklaven, die in den Werkstätten, Warenmagazinen und auf den Plantagen des Hinterlandes arbeiten müssen.
Portugiesische Juden fliehen auf die Kleinen Antillen
Die europäischstämmige Bevölkerung der Antilleninsel wird im 18. Jahrhundert wesentlich durch zwei Gruppen beherrscht: alteingesessene niederländischstämmige Kolonistenfamilien sowie britisch-amerikanische Kaufmannskreise. Neben diesen beiden, im gesamten Atlantikraum vernetzten Gruppen treten seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts auch Netzwerke sephardischer Händlerfamilien. Ihre kontinuierliche Präsenz im Bereich der Kleinen Antillen ist seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts belegt. Nach dem Zusammenbruch der niederländischen Herrschaft in Brasilien 1654 fliehen Hunderte portugiesische Juden von dort nach Norden. Zuflucht finden sie unter anderem auf Curaçao, Martinique und Guadeloupe. Schon um 1660, als Sint Eustatius noch als Patronat seeländischer Kaufleute fungiert, sind sephardische Händler aus Amsterdam und Westindien auf der Vulkaninsel nachweislich.
Die sephardischen Juden von Sint Eustatius
Eine stabile jüdische Gemeinde kann sich auf Sint Eustatius zunächst nicht etablieren. Die karibischen Kaper- und Plünderkriege zwischen 1664 und 1714 setzen gerade den niederländischen Inselbesitzungen in der Ostkaribik schwer zu. Erst die merkantile Neuausrichtung Eustatias nach 1674 bringt allmählich die nötige Stabilität und Prosperität. Sie sorgt bald auch dafür, dass die kleine sephardische Kaufmannskolonie auf Sint Eustatius festere Gemeinde- und Familienstrukturen ausbilden kann. 1722 befinden sich unter der 1.300 Menschen zählenden Bevölkerung von Sint Eustatius auch vier sephardische Familien. In den vier jüdischen Haushalten leben insgesamt 38 Personen, darunter auch 16 Sklaven.
Sint Eustatius und die Amsterdamer „Portugiesen“
In der Folgezeit steigt die Zahl jüdischer Bewohner parallel zur Gesamtbevölkerung sukzessive an. 1730 bitten Eustatias jüdische Händler bei der Amsterdamer Kammer der WIC um ihre rechtliche Gleichstellung mit der christlichen Kaufmannschaft der Antilleninsel; Handels- und Religionsfreiheit werden den jüdischen Familien Statias wenig später tatsächlich auch gewährt.
Entscheidende Mittler zwischen dem Leitungsgremium der WIC und der jüdischen Gemeinschaft auf Sint Eustatius sind die Amsterdamer „Portugiesen“. Diese bereits im ausgehenden 16. Jahrhundert entstandene Sephardengemeinde ist ein wichtiges Bindeglied im internationalen Beziehungsgefüge der atlantischen jüdischen Diaspora.
Familiennetzwerke in der Karibik und dem Atlantikraum
Auch die Sepharden von Sint Eustatius unterhalten im 18. Jahrhundert intensive wirtschaftliche und familiäre Kontakte mit jüdischen Gemeinden rund um die Karibische See und den Atlantik: vom nahe gelegenen Nevis, über Charleston und New York, dem einstigen Nieuw-Amsterdam, bis nach Guyana. Für Statias Inselcommandeure auf Fort Oranje dürfte die Bedeutung der sephardischen Handelsnetzwerke lediglich von den beiden merkantilen Führungsgruppen in der Region übertroffen werden: den britischen und niederländischen Kaufmannsriegen Westindiens und der nordamerikanischen Seestädte.
Sint Eustatius jüdische Synagoge Honem Dalin
Neuerlich unter Vermittlung der Amsterdamer Portugiesengemeinde bitten Statias Juden 1737 um die Genehmigung, eine Synagoge in Oranjestad bauen zu dürfen. Bis zu diesem Zeitpunkt versammelte sich die Gemeinde lediglich zu Hausgottesdiensten in den Wohnstätten der wohlhabenderen Gemeindeglieder. Finanzielle Unterstützung für den Bau der Synagoge erhält Eustatias jüdische Gemeinschaft dabei nicht nur aus Amsterdam; auch die traditionsreiche jüdische Gemeinde von Curaçao beteiligt sich in bedeutender Weise am Bau des jüdischen Gotteshauses. Die bereits in den 1650er Jahren entstandene Sephardengemeinde von Willemstad auf Curaçao ist das älteste jüdische Gemeinwesen im Machtbereich der niederländischen Westindien-Compagnie. Oranjestads neue jüdische Synagoge, Honem Dalin (etwa „Barmherzig den Bedürftigen“) genannt, kann 1739 schließlich eingeweiht werden. Die Mauern des zweistöckigen, über eine kleine Empore verfügenden Gotteshauses sind sieben Meter hoch; in seiner Grundfläche misst die Synagoge rund 100 m².
Zuzug aschkenasischer Juden nach Sint Eustatius
In den 1750er Jahren erlebt Sint Eustatius und seine merkantile Einwohnerschaft eine weitere Blütephase. Verstärkt lassen sich auf der Antilleninsel nun auch aschkenasische Juden mit zumeist jiddischer Umgangsprache nieder. Damit verändert sich auch die bisherige religiöse Homogenität der jüdischen Gemeinschaft auf Sint Eustatius. Der Anteil der aschkenasischen Juden unter den Gemeindegliedern steigt in dieser Zeit auf rund 20 %. Bald ringen sephardische und aschkenasische Gemeindetraditionen um Einfluss in der Synagoge von Oranjestad. Immer häufiger kommt es hierüber offenbar auch zu ernsten Spannungen. Wiederholt muss daher die örtliche Inselmiliz rabiat ausgetragene Konflikte um Fragen der religiösen Observanz schlichten.
Sint Eustatius und der Hurrikan von 1772
Unter Vermittlung des lokalen Inselcommandeurs kann im Oktober 1760 schließlich eine für alle Gemeindeglieder verbindliche Gemeindeordnung verabschiedet werden. Die Spannungen zwischen den beiden Traditionsflügeln werden hierdurch offenbar gemildert. Der neue Gemeinschaftssinn wird bereits 1772 auf eine harte Probe gestellt, als Sint Eustatius’ jüdische Synagoge durch einen schweren Hurrikan getroffen wird. Der tropische Wirbelsturm zerstört das Bethaus der Gemeinde so stark, dass die religiöse Gemeinschaft für die Reparatur ihrer Synagoge auf Spenden angewiesen ist. Hilfsgelder erreichen die jüdische Gemeinde von Sint Eustatius schließlich aus den Niederlanden, New York und Curaçao.
Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges
Der Orkan von 1772 fügt dem Handelsplatz zwar schwere Schäden zu; doch Sint Eustatius erlebt während des wenig später ausbrechenden Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges (1775-1783) eine letzte Blüte. Aufgrund seiner exponierten Rolle im interkolonialen Westindienhandel und seiner jahrzehntlangen Funktion als neutraler Freihafen entwickelt sich Sint Eustatius schnell zum wichtigsten Anlaufpunkt der nordamerikanischen Rebellen und ihrer kleinen Kriegs-, Kaper- und Schmugglerflotten.
Sint Eustatius als Drehscheibe des Schmuggels
Sint Eustatius ist dabei nicht nur Drehscheibe des Schmuggels mit Waffen oder Munition; die niederländische Antilleninsel fungiert auch immer wieder als Fluchthafen und Informationsbörse für nordamerikanische Kaperfahrer; ihre bisweilen geradezu tolldreisten Aktionen drohen der britischen Handelsschifffahrt in der Karibikregion immer gefährlicher zu werden. Da Statias Kaufleute auch mit den Verbündeten der Rebellen, Frankreich und Spanien, enge Verbindungen pflegen, rückt Sint Eustatius in den 1770er noch enger in den Blickpunkt der britischen Kriegsstrategie. Denn aus Sicht der Briten ist schnell klar, dass ein gezielter Schlag gegen Sint Eustatius das gesamte Handels- und Schmugglernetz der Karibik schwer erschüttern würde; vor allem Britanniens französischer Erzfeind nähme hierdurch schwer Schaden, so die Erwartung der Engländer.
Admiral Rodney besetzt Sint Eustatius
Da Sint Eustatius formell jedoch unter niederländischer Flagge steht, zögern die Briten jedoch noch eine Weile, ihrem langjährigen Verbündeten den Krieg zu erklären. Im Dezember 1780 ist es dann so weit: Der formellen Kriegserklärung Großbritanniens gegen die Vereinigten Provinzen der Niederlande folgt am 3. Februar 1781 die kampflose Besetzung Eustatias durch weit überlegende britische Marinekräfte. Militärischer Kommandeur der handstreichartigen Aktion ist einer der zwielichtigsten Prisenjäger der britischen Royal Navy: Admiral George Brydges Rodney (1718-1792). Binnen Kurzem plündert der umtriebige Admiral die Warenmagazine entlang der Reede von Oranjestad systematisch aus; erwartungsgemäß erbeutet Rodney dabei für die Krone, die Navy und seine Privatschatulle riesige Summen.
Rodneys Vorgehen gegen die jüdische Gemeinde von Sint Eustatius
Besonders brutal geht Rodney dabei gegen die Mitglieder der jüdischen Gemeinde auf Sint Eustatius vor. Zu dieser gehören um 1781 schätzungsweise 400-500 Menschen, respektive 100 Familien; unter ihnen vielfach Untertanen des britischen Königs und Bürger der Vereinigten Provinzen. Zehn Tage nach der Besetzung des karibischen Emporiums lässt der Admiral sämtliche jüdischen Haushaltsvorstände von Sint Eustatius im Waagehaus von Oranjestad versammeln. Die anschließenden Leibesvisitationen und Zudringlichkeiten gegenüber den jüdischen Männern sind dabei nur der Auftakt zu einem von antijüdischen Klischees und schlichter Geldgier geprägten Vorgehens; auf der Suche nach den angeblichen jüdischen Reichtümern schrecken Rodneys Mariner auch nicht davor zurück, den Friedhof der jüdischen Gemeinde von Sint Eustatius umzugraben. Anschließend werden Dutzende jüdischer Männer nach St. Kitts und Antigua verbracht.
Rodneys großer Ausverkauf auf Sint Eustatius
Was die britischen Soldaten bei ihren Haussuchungen und Plünderaktionen erbeuten können, wird wenig später mit den Besitztümern und Handelsgütern christlicher Kaufleute und Plantagenbesitzer auf einer riesigen Auktion feilgeboten. Selbst aus dem entfernten Barbados reisen Bieter nach Oranjestad. In der Lower Town können nicht nur Ladegut ersteigert werden, sondern ganze Schiffe. Handelswaren werden teilweise blind in ungeöffneten Bündeln und Ballen gekauft. Zeitgenossen schätzen, dass bei Rodneys großem Ausverkauf auf Sint Eustatius Güter im Wert von drei bis vier Millionen Pfund den Besitzer gewechselt haben. Rodney und die britische Krone werden an dieser gigantische Summe jedoch wenig Freude haben. Ein Großteil der Beute aus den Packhäusern und Plantagen von Oranjestad wird wenig später vor der französischen Atlantikküste aufgebracht.
Sint Eustatius: wirtschaftlich schwer angeschlagen
Wenngleich Sint Eustatius bereits im November 1781 von Hollands französischen Verbündeten zurückerobert wird, ist der Schaden für die Wirtschaft des Freihafens katastrophal. Von der rund neun Monate währenden Besatzungsperiode durch die Briten, wird sich das Antilleneiland nie wirklich erholen. Für Eustatias jüdische Gemeinschaft sind die Folgen des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges besonders drastisch. Da Rodney nicht einmal vor dem Hausrat der jüdischen Familien haltgemacht hat, sind zahlreiche jüdische Haushalte und Handelshäuser nach dem Krieg ruiniert beziehungsweise vollständig aufgelöst. Parlamentarische Kampagnen und jahrelange Schadensersatzprozesse ändern in den Folgejahren hieran nur wenig. Der einstmals so mächtige Stapelplatz, das Emporium der Karibik, ist dauerhaft beschädigt. Die wachsende Konkurrenz der westindischen Häfen von Charlotte Amalie, Christiansted und Saint-Barthélemy tut ein Übriges, die wirtschaftliche Stellung Eustatias weiter zu schwächen.
Niedergang der jüdischen Gemeinde von Sint Eustatius
In der Folge sinkt die Zahl der Juden auf Sint Eustatius stetig ab. 1790 leben nur noch rund 150 Juden auf der Karibikinsel. Als 1792 der Hazan („Kantor“) der jüdischen Gemeinde von Oranjestad stirbt, wird kein Nachfolger mehr gesucht. Wenig später erschüttert ein erneuter Kriegsausbruch Sint Eustatius und den Westindienhandel: Die Schockwellen der französischen Revolution erreichen nun auch die Karibik; 1795 gelangt Sint Eustatius neuerlich unter französische Kontrolle.
Das Ende der jüdischen Gemeinde von Honem Dalin
Für die jüdische Gemeinde der niederländischen Antilleninsel bedeutet dies das Ende: Als die Epoche der französischen Revolutions- und Imperialkriege zu Ende geht, leben auf Sint Eustatius gerade noch fünf Juden. 1846 stirbt schließlich die letzte jüdische Bewohnerin von Sint Eustatius. Zu diesem Zeitpunkt hat der Verfall der Synagoge und des Friedhofs der Gemeinde von Honem Dalin bereits begonnen. Heute sind nur doch die Außenmauern von Honem Dalin und der ehemalige jüdische Friedhof auf Sint Eustatius erhalten.
Literatur:
- Mordechai Arbell, The Jewish Nation of the Caribbean. The Spanish-Portugese Jewish Settlements in the Caribbean and the Guianas. Jerusalem; New York 2002.