Als in den 1590er Jahren protestantische Seemächte und Exilantenkreise immer stärker in die Machtsphären der Iberer in der Karibik und in Asien vorstoßen, beginnt eine wallonische Flüchtlingsfamilie in den Réfugiés-Zentren in und um Frankfurt eines der bedeutendsten Publikationsprojekte der Frühen Neuzeit. Aus der Fülle jener proto-ethnografischen Schriften und Journale, welche mit den diversen Raub- und Erkundungsfahrten nach Europa gelangen, beginnen die de Brys unter Leitung des geschäftstüchtigen Verlagsseniors Theodor de Bry (1528-1598) zwei Bestsellerreihen zu kompilieren. Entsprechend ihrem geografischen Schwerpunkt werden sie auch als America– beziehungsweise als India-Orientalis-Serien bezeichnet.
Mit Kupferstichen reich illustriert enthalten sie einige der wichtigsten europäischen Reiseberichte aus Amerika, der Karibik und Asien seit dem frühen 16. Jahrhundert. Bis 1634 werden in insgesamt 25 Foliobänden rund 50 dieser Reiseerzählungen in Frankfurt gedruckt. Neun Bände umfasst dabei die America-Serie. Unter Europas Gelehrten und adlig-merkantilen Büchersammlern werden die prestigeträchtigen Bände rasch zu einem großen Verkaufserfolg. Geschätzte Auflage seinerzeit: je 1.000 Exemplare.
Die de Brys — Goldschmiede und Kupferstecher aus Lüttich
Verlagsgründer Theodor de Bry stammt aus einer alteingesessenen Lütticher Goldschmiedefamilie und gilt bereits in frühen Jahren als exzellenter Kupferstecher. Nach Stationen in Straßburg, Antwerpen und London hat er nicht nur die Kunst des Gravierens in Kupferplatten immer weiter perfektioniert, sondern offenbar auch ein vertieftes Verständnis für den europäischen Buchmarkt entwickeln können. In seiner Heimat religiös verfolgt lässt sich der fromme Calvinist 1588 mit seiner Familie endgültig in Frankfurt nieder. Theodor de Bry folgt dabei mutmaßlich mehreren Erwägungen: Die Mainmetropole ist ein etablierter Messestandort und das Zentrum des Buch- und Verlagsgeschäftes im Heiligen Römischen Reich. Zahlreiche Lohndruckerein bieten im Raum Frankfurt ihre Kapazitäten an.
Calvinistische Réfugiés-Zentren im Raum Frankfurt
Zudem beherbergt Frankfurt seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts eine wirtschaftlich gut integrierte Gemeinde exilierter flämischer, wallonischer und niederländischer Protestanten, zumeist calvinistischer Konfession. Unter ihnen sind nicht wenige, europaweit gut vernetzte Kaufleute und Handwerker. Über die Rhein-Main-Verbindung ist die Stadt zudem verkehrsgeografisch optimal an die kultur-, reformations- und wirtschaftsgeschichtlich bedeutende Verbindungsachse zwischen Basel, Straßburg und Amsterdam angebunden.
Kolonialdiskurs: Indianer und „Kannibalen“ in Amerika
Insbesondere über seine Kontakte in die Niederlande und nach England kann sich Theodor de Bry offenbar regelmäßig mit den neuesten Reisejournalen und Bilddarstellungen aus Amerika und Asien versorgen.
Bereits für den ersten Band der America-Reihe über die Vorgänge in der mysteriösen Roanoke-Kolonie in Virginia greift Theodor de Bry über Londoner Kontakte auf die Aquarellmalereien eines unmittelbar beteiligten englischen Kolonisten zurück. Für den 1591 publizierten zweiten Band der America-Serie über ein hugenottisches Siedlungsprojekt in Florida hat die Werkstatt de Brys ferner Zugriff auf Zeichnungen des Expeditionsmalers Jacques le Moyne de Morgues (um 1533–1588).
— Wenn zu den oftmals sehr detaillierten Reiseberichten keinerlei geeignetes Bildmaterial vorliegt, was nicht selten der Fall ist, lässt die Frankfurter Kupferstecherei kurzerhand die eigene Fantasie obwalten. Mithilfe neuester Antwerpener Illustrationstechnik prägt die Frankfurter Kupferstecherei somit auch ganz unmittelbar den europäischen Kolonialdiskurs mit; nachweislich etwa im Bezug auf die berüchtigten Kannibalismusnarrative der Frühen Neuzeit.
Übersetzung in alle großen europäischen Sprachen
Besondere Bedeutung erfährt die Rolle der de Brys bei diesen Prozess durch einen zentralen Aspekt bei der ökonomischen Verwertung der Buchproduktionen: Bereits Theodor de Bry lässt seine Werke in alle großen europäischen Sprachen übersetzen; die lateinischen Ausgaben seiner Kompilationen sichern auch die Verbreitung in katholisch-gelehrten Kreisen des europäischen Kontinents.
Theodor de Brys Nachfolger im 17. Jahrhundert
Nach Theodor de Brys Tod 1598 setzen zunächst seine Söhne Johann Theodor (1561-1623) und Johann Israel (1570-1611) den Verkaufsschlager fort. Gleichsam in der dritten Generation folgt schließlich bis 1634 Johann Theodors Schwiegersohn Matthäus Merian (1593-1650). Der Baseler Kupferstecher und Verleger war 1616 in den Betrieb der de Brys aufgenommen worden. Aus Merians zweiter Ehe entstammt seine berühmte Tochter Maria Sibylla Merian (1647-1717).
Anders als die de Brys wird die Frankfurter Malerin 1699 selbst in die Neue Welt reisen und in der niederländischen Kolonie Suriname nach bester Familienmanier ihre berühmten Insekten-Bildtafeln anfertigen.
Effiziente Buchproduktion der de Brys am Main
An wechselnden Standorten im Raum Frankfurt entstehen somit insgesamt ca. 1.500 Kupferstiche, die in den zwischen 1590 und 1634 publizierten America- und Asia-Bänden verwendet werden. Dabei ist das Frankfurter Familienunternehmen jedoch auf eine Vielzahl von regionalen Arbeitskräften und Spezialisten angewiesen. Allein die Produktion eines einzigen Bandes der Serie benötigte rund 12 Monate und erfordert gleichermaßen versierte Übersetzer wie geschickte und zeiteffiziente Kupferstecher und Colorateure.
XXL-Band „Theodor de Bry. America“ im Taschen-Verlag
Der Kölner Kunstbuchverlag Taschen hat nun aus dieser reichen Bilderwelt alle 218 Bildtafeln der America-Serie in einer Prachtausgabe versammelt. Es handelt sich dabei um eine XXL-Kompilation mit sämtlichen Karten, Kupferstichen und Frontispizen der zwischen 1590 und 1602 erstmals erschienen America-Reiseberichte. Als Druckvorlagen benutzte der Taschen-Verlag zumeist die kolorierten Stiche der Luxusausgaben jener America-Serie. Jene kostspieligen Prunkversionen der Reihe wurden von der de Bry’schen Werkstatt seinerzeit für besonders kaufkräftige Sammler auf dem europäischen Büchermarkt produziert.
Frühneuzeitliche Reiseberichte aus Amerika
Neben den erwähnten Kupferstichen der Roanoke- und der hugenottischen Florida-Kolonie beinhaltet der Taschen-Großband — entsprechend den historischen Vorlagen – unter anderem Darstellungen aus den Eldorado- und Peru-Abenteuern Girolamo Benzonis und Walter Raleighs sowie aus den berühmten Reiseberichten der beiden deutschen Söldner Ulrich Schmidl und Hans Staden. Die frühneuzeitlichen Landsknechte waren in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts an den iberischen Eroberungszügen in Brasilien beziehungsweise dem Rio-Plata-Gebiet beteiligt. Stadens Brasilienfahrt ab 1548 ist vor allem für seine Kannibalismus-Berichte berüchtigt.
Die Stiche enthalten ferner begleitende Zitate aus den jeweiligen Reiseberichten in einer modernisierten Sprachgebung. Zur besseren Orientierung des Lesers sind die Tafeln und Reiseberichte geografisch in neun Abschnitte eingeteilt worden: von Florida bis zur Magellanstraße; sie folgen hierin der originären Frankfurter Publikationschronologie zwischen 1590 und 1602.
Begleittexte von Experten der Kolonialgeschichte
Die verschiedenen (Bild)-Darstellungen und Imaginationen der Neuen Welt werden schließlich in den wissenschaftlich-kritischen Einführungs- und Begleittexten des Taschen-Bandes analysiert und eingeordnet. Hierfür konnte der Taschen-Verlag zwei Experten der frühneuzeitlichen Kolonialgeschichte des Atlantikraums gewinnen: den niederländischen De-Bry-Experten Michiel van Groesen, der auch als ausgewiesener Experte der Geschichte Niederländisch-Brasiliens gilt; sowie den amerikanischen Historiker Larry E. Tise, einem Fachmann für elisabethanische Kolonial- und Wissenschaftsprojekte in Amerika um 1600.
Der 376 Seiten umfassende Taschen-Band “Theodor de Bry. America“ misst 28,5 mal 39,5 cm, kostet 100 Euro und liegt jeweils in einer deutschen, englischen und französischen Ausgabe vor.