
Die Besiedlungsgeschichte der prä-kolumbianischen Karibik ist seit Jahrzehnten Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Debatten. Die Forschung geht dabei von mehreren, zeitlich unterschiedlichen Einwanderungswellen aus, die jeweils vom amerikanischen Festland in die Inselwelt der Antillen vorstießen. Ein besonders Augenmerk ist dabei seit jeher auf die historische Ankunft der Kariben gerichtet, einer als äußerst kriegerisch und grausam beschriebenen Kultur des Antillenraums. Sie prägte der westindischen Inselwelt schließlich auch ihren Namen auf.
Kannibalen: Menschenjäger und Menschenfresser?
Bereits Christoph Kolumbus berichtet in seinem berühmten „Diario“ von brutalen antillianischen Menschenjägern und Menschenfressern, die er als „Caniba“ bezeichnet. Fantasievolle Schilderungen heidnischer Kannibalen und ihrer angeblichen Opfer, etwa den bahamaischen Lucayos, wurden durch Kolumbus und andere frühneuzeitliche Autoren alsbald zu zentralen Elementen des europäischen Kolonialdiskurses und seiner Bildsprache. Berühmt-berüchtigt sind etwa die ab den 1590er Jahren entstandenen Kupferstiche der Frankfurter Verlegerfamilie de Bry. Als Teil umfänglicher Reiseberichtssammlungen wurden diese Imaginationen der Karibik zu Bestsellern des frühneuzeitlichen Buchhandels. Für das spanische-antillianische System der Razziensklaverei indes ermöglichte bereits die bloße Behauptung heidnischer Kannibalismusrituale die legale Verschleppung indigener Bevölkerung in die Plantagen- und Bergbausysteme des Spanischen Reichs in Amerika.
Kariben auf den Bahamas
Die Frage nach rituellen Kannibalismus bei den Ureinwohnern der Karibik ist durch die Forschung bis heute nicht endgültig geklärt; ohnedies bezweifelte die Fachwelt, dass die spanischen Entdecker 1492 im Bereich der Bahamas überhaupt auf Opfer karibischer Raubzüge gestoßen sein könnten. Bisher galt der Nordostbogen der Kleinen Antillen auf der Höhe der Guadeloupe-Passage als äußerste Grenze inselkaribischer Präsenz in der Karibik; somit also Hunderte Kilometer von den mutmaßlichen bahamaischen Landepunkten der Spanier 1492 entfernt. —Eben dieses Besiedlungsmodell intergenerationeller karibischer Inselsprünge entlang der Kleinen Antillen nach Norden scheint nun infrage gestellt.
Studie könnte Kolumbus-Berichte über Kannibalen bestätigen
Ein Team US-amerikanischer Forscher um die Anthropologin Ann H. Ross und den Archäologen William F. Keegan will mithilfe neuartiger biologisch-anthropologischer Forschungsansätze Hinweise gefunden haben, dass eine karibische Migrationswelle ab der Zeit um 800 n. Z. über Hispaniola bis zu den Bahamas vorgedrungen sein muss. Kolumbus‘ Berichte über Menschenjäger und Kannibalismus könnten sich tatsächlich also auf karibische Expansionsbewegungen weit nach Norden bezogen haben und gewönnen vor diesem Hintergrund an Plausibilität, so die US-Forscher. Bislang stützten sich Untersuchungen prä-kolumbianischer Migrationsbewegungen in der Karibik überwiegend auf Werkzeug- und Keramikfunde.
103 prä-kolumbianische Schädelfunde untersucht
Für ihre im Januar in den „Scientific Reports“ (Springer Nature) veröffentlichen Studie nutzten die Wissenschaftler der Staatsuniversität von North Carolina (NCSU) und des Florida Museum of Natural History 103 Schädelfunde aus der gesamten Region rund um die Karibik, darunter auch acht Schädel von den Bahamas. Die Schädel stammen aus der Zeit zwischen 800 und 1542 und wurden durch die US-Wissenschaftler mit Methoden der geometrischen Morphometrie vermessen. Morphometrische Verfahren können mithilfe kraniofazialer Referenzpunkte, etwa im Bereich der Augenhöhlen oder der Nase, genetische Proxies liefern und damit Erkenntnisse über Verwandtschaftsbeziehungen ermöglichen, so die Wissenschaftler.
Drei historische Migrationsbewegungen in die Karibik
Die US-Forscher identifizierten bei ihren Schädeluntersuchungen drei Cluster mit gesichtsmorphologischen Ähnlichkeiten, die gleichermaßen engere verwandtschaftliche Beziehungen wie historische Wanderungsbewegungen erkennen ließen. Basierend auf ihren neuen morphometrischen Untersuchungsergebnissen schlagen die Wissenschaftler nun ein aus drei historischen Migrationsbewegungen bestehendes Modell für die Besiedlung der Karibik vor: eine erste Wanderungsroute über die Straße von Yucatán ab 5000 v. Z. nach Kuba; eine von südamerikanischen Arawak geprägte zweite Migrationswelle nach Puerto Rico zwischen 800 und 200 v. Z.; und eine dritte, dezidiert karibische Migrationswelle ab 800 n. Z. nach den Großen Antillen.
Karibische Einwanderer nach Hispaniola, Jamaika und den Bahamas
Diese sei, so die Wissenschaftler, über Hispaniola und Jamaika schließlich weiter nordwärts in den Inselarchipel der Bahamas vorgedrungen, dem letzten Inselgebiet der Karibik, dass durch Menschen besiedelt wurde. Angehörigen eben dieser dritten Migrationswelle konnten die amerikanischen Forscher auch die acht von den Bahamas stammenden Schädel zuordnen. Die prä-kolumbianischen Siedler der „Lucayischen Inseln“ stammten also nicht aus Kuba, sondern von einer karibischen Einwanderungswelle nach den Großen Antillen.
Nautisches Können der Kariben
Diese karibischen Einwanderer müssen demnach die Karibische See bis nach Hispaniola direkt überquert haben. Archäologische Untersuchungen hatten derartige nautische Fähigkeiten bei den Kariben bereits seit Längerem vermuten lassen. Diesen Wanderungszügen entsprächen auch Keramikfunde des sogenannten Meillacoid-Typs, die für die Zeit ab 800 auf Hispaniola, ab 900 sodann auf Jamaika und ab etwa 1000 auf den Bahamas nachweisbar seien, so das Forscherteam um Ann H. Ross und William Keegan. Sie gelten ihnen ebenfalls als Spuren einer antillianischen Invasion aus der südamerikanischen Ursprungsregion der Kariben im heutigen Venezuela.