
Von Grabräubern unberührte Gebeine unterhalb eines rund fünf Meter aufragenden Maya-Tempels. Die Ruhestätte wurde von den Angehörigen lediglich mit zwei einfachen Keramiken versehen. Sie zeigen einen kormoranartigen Wasservogel und ein geheimnisvolles Feuerritual — Vor rund 1.250 Jahren wurde „Individuum 1“ in die Elite der Maya hineingeboren und erbte zunächst Titel und gesellschaftliche Stellung seines Vaters. Als sogenannter „Lakam“, als „Bannerträger“, könnte er in krisenhafter Zeit schließlich als Unterhändler in wichtigen diplomatischen Missionen fungiert haben. Reich verzierte Hieroglyphen in unmittelbarer Nähe seines Grabmales übermitteln uns womöglich gar seinen vollen Namen: Ajpach‘ Waal. Dennoch starb der Mann offenbar in bescheidenderen, für einen „Lakam“ wohl nicht mehr völlig standesgemäßen Verhältnissen. Gesundheitlich angeschlagen könnte er sich zum Ende seines Lebens bisweilen nur noch unter Schmerzen bewegt haben.
Lebensverlaufsanalyse eines hohen Diplomaten der Maya
— Aus einer Vielzahl osteologischer, epigrafischer und archäologischer Daten hat ein Team um den Anthropologen Kenichiro Tsukamoto von der Universität von Kalifornien, Hauptcampus Riverside, die besonderen Lebensumstände dieses mutmaßlichen Diplomaten rekonstruieren können. Die Ergebnisse ihrer „Lebensverlaufsanalyse“, eines besonderen, intersektionalitätsorientierten Untersuchungsansatzes innerhalb der Bioarchäologie, wurden kürzlich in einem Aufsatz für das Fachblatt „Latin American Antiquity“ vorgestellt; Erstautorin ist die Anthropologin Jessica I. Cerezo-Román von der Universität von Oklahoma.
„Struktur GZ1“: El Palmar auf der Halbinsel Yucatán
Die sterblichen Überreste von „Individuum 1“, eines etwa 35 bis 50 Jahre alten Mannes, wurden bei Ausgrabungen im mexikanischen El Palmar auf der Halbinsel Yucatán entdeckt, nahe der Grenze zu Belize und Guatemala. Erste Grabungen in El Palmar wurden bereits 1936 unter dem britischen Archäologen und Pionier der Maya-Forschung J. Eric S. Thompson (1898-1975) begonnen. Seit 2007 finden in dem Areal im Südosten von Campeche archäologische Ausgrabungen unter der Leitung von Kenichiro Tsukamoto und Javier López Camacho statt.
„Individuum 1“ und die Maya-Hieroglyphen
Die Wissenschaftler halten „Individuum 1“ mit hoher Wahrscheinlichkeit für identisch mit jenem Ajpach‘ Waal, welche nahebei angebrachte Treppenhieroglyphen prominent erwähnen. Das Skelett des Mannes fand sich in einem mit Steinplatten eingefassten Grab innerhalb einer als „Struktur GZ1“ bezeichneten Tempelanlage; diese stellt wiederum einen Teil der sogenannten „Guzmán-Gruppe“ dar, einem Ensemble aus Gebäuden um einen größeren Platz in 1,3 Kilometern Entfernung von den einstigen Monumentalbauten von El Palmar („Hauptkomplex“). „Struktur GZ1“ wird von den Forschern der spätklassischen Zeit der Maya-Kultur (600-800 u. Z.) zugerechnet. Der Tempel diente einst der zeremoniellen Selbstdarstellung des Adligen, insbesondere seines statusspezifischen Ahnenkultus, eines der besonderen Privilegien der Maya-Elite. Ajpach‘ Waal tat dies an einem Ort, welcher womöglich bereits seit Generationen von seiner Familie beansprucht wurde.
Maya-Botschafter des „Schlangenkopfreichs“ Calakmul: Ajpach‘ Waal
Der epigrafisch verzierte Treppenaufgang nach einem plattformartigen Absatz vor dem Eingang des Tempels kündet von wichtigen Ereignissen im Leben des Ajpach‘ Waal. Im Sommer des Jahres 726 u. Z. soll sich dieser den Hieroglyphen zufolge als Emissär des „Schlangenkopfreichs“ Calakmul und seines Bündnisgetreuen El Palmar vom zentralen Tiefland des mesoamerikanischen Siedlungsgebietes der Maya in das 350 Kilometer entfernte Maya-Zentrum Copán im heutigen Honduras begeben haben. Im Rahmen seiner diplomatischen Mission musste der Bannerträger eine Allianz insbesondere zwischen Copán und Calakmul vermitteln helfen; weitere Einzelheiten der Mission bleiben unklar. Sie erfolgte jedoch in einer Zeit großer Rivalitäten zwischen Calakmul und dem benachbarten Tikal, welche jahrhundertelang um die Vorherrschaft in der Maya-Region rangen. „Struktur GZ1“ wurde durch Ajpach‘ Waal nach dem Ende seiner Copán-Mission selbst errichtet, mutmaßlich im September 726 u. Z. Der langgediente Würdenträger wurde schließlich auch dort bestattet, so vermuten die Wissenschaftler.
Zierimplantate aus Pyrit und Jade für die Elite der Maya
Während die Hieroglyphen und der privilegierte Ort der Bestattung unterhalb des Tempels auf den hohen gesellschaftlichen Status des Toten verweisen, eröffnen gerade die archäologischen und osteobiografischen Erkenntnisse der Forscher schlaglichtartig weitere Perspektiven auf den dramatischen Lebenslauf des „Lakam“ von der Halbinsel Yucatán: So enthält die mutmaßliche Ruhestätte des Ajpach‘ Waal nur äußerst bescheidene Grabbeigaben; wie erwähnt lediglich zwei Keramikgefäße; mithin also keinerlei Reichtümer.
Seinen offenkundig verminderten sozialen Status erweist auch der Zustand seiner oberen Vorderzähne. Zu dekorativen Zwecken enthielten sie zwar Implantate aus Pyrit und Jade, einem von den Maya besonders hochgeschätzten Schmuckstein; die Dentaleinlagen sollten ihn weithin sichtbar als Angehöriger der Elite ausweisen. — Eines der Implantate war jedoch ausgefallen und offenbar vor seinem Tod auch nicht mehr ersetzt worden.
Das Lächeln des „Lakam“
Das hierdurch entstandene Loch dürfte unmittelbar sichtbar gewesen sein, sobald der Sendbote aus El Palmar lächelte oder auch nur sprach. Das Forscherteam um Kenichiro Tsukamoto vermutet, dass dieser Umstand Ajpach‘ Waal nicht mehr länger als Bannerträger des Maya-Staatengebildes Calakmul empfahl. Sein Erscheinen wäre andernfalls einem peinlichen, öffentlichen Eingeständnis der wirtschaftlichen Not oder der verminderten politischen Stellung der Chalakmul-Dynastie und ihres Bündnispartners El Palmar gleichgekommen, so die Forscher.
Zahnfleischerkrankungen, Abszesse
Ajpach‘ Waal dürfte sich der rituellen, wiewohl äußerst schmerzhaften Prozedur ab seiner Pubertät mindestens sechsmal unterzogen haben, erstmalig wohl, als er formell den Titel seines Vaters erbte. Längerfristig verursachten die operativen Eingriffe bei Ajpach‘ Waal jedoch Zahnfleischerkrankungen und Abszesse — und schließlich die Entstehung jener sich mit Zahnstein füllenden, auffälligen Höhlung oder Kavität. Zum Ende seines Lebens konnte der „Lakam“ vermutlich nurmehr weiche Nahrung zu sich nehmen.
Verschleiß durch Gewaltmärsche in Mesoamerika
Der Zustand seiner Knochen enthüllte den Wissenschaftlern weitere Erkenntnisse über Ajpach‘ Waals insgesamt eher schlechten Gesundheitszustand: So litt der Maya-Adlige an einer Knochenhautentzündung (Periostitis), die Folge einer bakteriellen Entzündung, einer Verletzung oder zeitweiliger Mangelernährung; möglicherweise hatte er sich diese bereits während seiner Kindheit zugezogen. Derlei degenerativ-entzündliche Veränderungen der Knochenhaut waren nicht ungewöhnlich für urbanisierte Maya im Zentralen Tiefland; dortige Großsiedlungen mit ihrer dicht gedrängten Bevölkerung hatten regelmäßig mit Hygieneproblemen und kriegsbedingten Versorgungsengpässen zu kämpfen. Jahrelange Gewaltmärsche, während derer er ein schweres Banner tragen musste, zeitigten überdies einen deutlichen Verschleiß seiner Gelenke. Die Forscher stellten bei ihren Untersuchungen fest, dass Ajpach‘ Waals zum Ende seines Lebens an verschiedenen Stellen seines Körpers unter Arthritis litt.
Schienbeinbruch während eines rituellen Ballspieles der Maya?
Obendrein wies der Bannerträger eine Schienbeinfraktur auf. Diese könnte er sich während eines rituellen Ballspieles der Maya zugezogen haben. Von dem ehrenvollen, wiewohl äußerst brutalen und lebensgefährlichen Kontaktballspiel mit besonderer kultischer Bedeutung für die Maya berichten auch die Treppenhieroglyphen der „Struktur GZ1“. Vor diesem Hintergrund vermuten die Forscher auch, dass sich in der Grabstätte unterhalb des Tempels der Leichnam Ajpach‘ Waals befand und nicht der seines Vaters, „Ajlu…Chih“.
Soziale Minderstellung zum Lebensende
Die offenkundige soziale Minderstellung des Sohnes am Ende seiner Tage erklären die Wissenschaftler insbesondere vermittels der politischen Instabilitäten der spätklassischen Zeit: nur rund zehn Jahre nach dem Beginn der durch Ajpach‘ Waal vermittelten Allianz kommt es zu ernsten politischen Verwerfungen in der Region, ausgelöst durch eine rivalisierende Dynastie. Sie unterminierten schließlich, so die Forscher, die gesellschaftliche Stellung Ajpach‘ Waal und könnten erklären, warum seine letzte Ruhestätte nur äußerst spärliche Grabbeigaben aufweist.