
Rund 230 Jahre lang beteiligen sich niederländische Kaufmannskreise am internationalen Sklavenhandel. Bereits in den 1590er-Jahren könnten niederländische Guineafahrer erstmalig im afrikanischen Menschenhandel aktiv geworden sein. Als erste dokumentierte Sklavenhandelsreise gilt die Fahrt der Amsterdamer FORTUIJN, die 1596 Sklaven in Lagos an der portugiesischen Algarveküste verkauft. Gleich, ob als Reeder, Kapitäne, als Finanzinvestoren, Spekulanten, Manufakturisten oder als Vertreter der politischen Eliten nehmen Niederländer alsbald eine führende Rolle in den Versklavungsgeschäften zwischen Indik und Atlantik ein. Diesen jahrhundertelangen Verstrickungen und Ausbeutungszusammenhängen gedenkt das Königreich in diesem Jahr in besonderer Weise.
— Interkontinental verknüpft stellt das Gedenkjahr 2021 dabei zwei historische Ereignisse in den Blickpunkt: die Gründung der niederländischen Westindien-Compagnie (WIC) vor 400 Jahren, dem wichtigsten Organisationsvehikel des niederländischen Sklavenhandels auf dem Atlantik bis in die 1730er-Jahre; und die Etablierung eines Plantagen- und Zwangsarbeitssystems auf den molukkischen Bandaeilanden. — Im Machtbereich der Vereinigten Ostindien-Compagnie (VOC) im heutigen Indonesien wird hier 1621 gegen den Widerstand der indigenen Bevölkerung der Anbau der Muskatnuss monopolisiert.
Sklavenhandel in Ost und West
Eine dezidiert interkontinentale Perspektive auf die niederländische Sklavereigeschichte ist unbedingt geboten; sind die Sklavenhandelssysteme der beiden Compagnien zeitweilig doch untereinander eng vernetzt: So erhält die VOC zeitweilig etwa Erlaubnis, das westafrikanische Stützpunkt- und Faktoreisystem der WIC zum Zwecke ihres asiatischen Sklavenhandels zu nutzen. Zur Stabilisierung der Handelswege nach Ostasien tritt die WIC 1652 gar die Tafelbai im heutigen Südafrika an die VOC ab. Die Bucht liegt eigentlich im südatlantischen Monopolgebiet der WIC. Vorübergehend wird in dieser Phase sogar über eine Vereinigung der Aktiengesellschaften verhandelt.
Der niederländische Anteil am atlantischen und indischen Sklavenhandel
Zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert werden durch europäische Sklavenhändler rund 12,5 Millionen Afrikaner geraubt oder eingehandelt, über den Atlantik verschleppt und in Amerika zumeist auf Lebenszeit versklavt. Niederländische Sklavenhändler könnten allein während des 17. und 18. Jahrhunderts rund 600.000 Afrikaner über den Atlantik verkauft haben. Ihre tatsächliche Anzahl dürfte noch weitaus größer gewesen sein, denn die meisten Sklavenholer agieren zwar im Auftrag oder mit Genehmigung der niederländischen Westindien-Compagnie; doch auf dem Atlantik operiert beständig auch eine beträchtliche Zahl niederländischer Monopolbrecher und Schmuggler. Für den Sklavenhandel der VOC geht die Forschung von 660.000-1.135.000 Sklaven aus, die in Gebiete unter der Kontrolle der Ostindien-Compagnie verschleppt wurden; durch particuliere, das heißt auf eigene Rechnung handelnde Kaufleute, durch VOC-Angestellte, oder, zum geringsten Teil, auf Rechnung der Compagnie selbst.
Sklaverei-Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum 2021
Als erinnerungspolitischer Fixpunkt des nationalen Gedenkens 2021 mag die ursprünglich bereits für Februar geplante sklavereigeschichtliche Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum gelten. Corona-bedingt konnte sie jedoch erst am 18. Mai im Beisein des niederländischen Königs Willem-Alexander eröffnet werden und war daher auch nur für rund drei Monate zu besichtigen.
Konzeptionell folgte die kurzweg und programmatisch „Slavernij“ betitelte Schau einem dezidiert biografiebezogenen Ansatz und suchte Vergangenheit und Gegenwart der Sklaverei und ihrer Folgewirkungen innerhalb der niederländischen Gesellschaft auszuloten. Im Mittelpunkt standen dabei die Lebensläufe von zehn Persönlichkeiten, die auf je unterschiedliche Weise in die Gewaltdynamiken der atlantisch-asiatischen Sklaverei hineingezwungen wurden, von ihnen profitierten, sie steuerten, beförderten — oder gegen diese rebellierten: Versklavte Afrikaner und Afrikanerinnen aus den Plantagensystemen Niederländisch-Brasiliens, Surinames oder den indonesischen Archipelen; Sklavenhändler und Abolitionisten — oder Repräsentanten afrikanischer Widerstandsgeschichte, wie der legendäre Aufstandsführer der Verskalvten auf Curaçao im Jahre 1795, Tula.
Ausstellungszonen
Ihnen allen waren eigene Ausstellungszonen gewidmet, welche Enge und Weite ihrer Widerstands- und Aktionsräume, nahezubringen suchten; für den Besucher vor allem eine Begegnung in Form von Alltagsobjekten, persönlichen Besitzgegenständen, Gemälden und Archivstücken, darunter musealen und privaten Leihgaben aus vier Kontinenten. Sie verbanden eindrücklich gleichsam noch einmal das einstige Operationsgebiet der beiden großen niederländischen Handelscompagnien: von den Plantagenkolonien der WIC in Südamerika und der Karibik, über den Atlantik und das Kap der Guten Hoffnung sodann in den Indischen Ozean nach den Besitzungen der VOC in Südostasien.
Tiefenwirkungen des niederländischen Sklavereisystems
Bewusst versuchte die Ausstellung auch einen gegenwartlichen Bezug herzustellen. Nachfahren des niederländischen Sklavereisystems leben auch in den Niederlanden selbst; und die sozioökonomischen und diskursiven Wirkungen und Destruktionen jenes Gewalt- und Ausbeutungssystems reichen bis heute tief in den niederländischen Alltag hinein; prägen lebhafter noch als im deutschen Kontext tagespolitische Debatten und gesellschaftliche Diskurse. Für ihre Audiotour suchten die Ausstellungsmacher teils auch Sprecher und Sprecherinnen aus den postkolonialen Migrantengemeinschaften der Niederlande zugewinnen, insbesondere solche mit surinamischen oder antillianischen Wurzeln; darunter etwa Sportler, Künstler, Kuratoren oder Wissenschaftler. Verschiedentlich teilen die Sprecher sogar ganz persönliche Bande mit den Lebensgeschichten, der von ihnen präsentierten Menschen, ob als Nachfahren von Versklavten oder als Nachsassen niederländischer Plantagenunternehmer.
Die Geschichte des João Mina in Niederländisch-Brasilien
Mitunter tragen sie die Sklavereigeschichte ihrer Familie unmittelbar im Namen — wie im Fall der niederländischen Schauspielerin Joy Delima. Deren Vorfahren wurden von der niederländischen Sklavenfestung Elmina im heutigen Ghana über den Atlantik verschleppt. Joy Delima erzählt in ihrem Audiotourbeitrag die Geschichte eines nach Brasilien versklavten Mannes namens João Mina. Die dramatische Lebensgeschichte João Minas konnte für die Amsterdamer Ausstellung aus Verhörprotokollen rekonstruiert werden, die im Oktober 1646 in Niederländisch-Brasilien entstanden sind. Mina war während eines Aufstandes portugiesischer Siedler seinem luso-brasilianischen „Dono“, seinem selbst ernannten „Eigentümer“, entkommen, dann jedoch durch Einheiten der WIC festgesetzt und mutmaßlich durch Vertreter deren militärisch-ziviler Aufklärung in Recife befragt worden. Auch João Mina, oder ein direkter Vorfahr desselben, wurde ursprünglich über das seinerzeitige Zentrum des europäischen Sklavenhandels an der Goldküste nach Brasilien verschleppt.
Sklavereigedenken in den Niederlanden: Ausstellungen, Debatten
Gleich mehre Ausstellungen und Sonderschauen befassten sich in den vergangenen Jahren mit der Sklavereigeschichte der Niederlande im kolonialen sogenannten „Westen“ von Republik und Monarchie, den Antillen und Suriname. Im Vorgriff auf das Gedenkjahr 2021 etwa widmete das Amsterdamer Tropenmuseum der niederländischen Sklavereigeschichte bereits vor vier Jahren eine Exposition mit gleicherweise biografiezentrierter Konzeptionierung — und dem erklärten Bestreben, sich einem diverseren Publikum zu öffnen. Hierzu gehörte auch der breite Raum, der rezenten niederländischen Debatten, etwa um die kolonialrassistische Spottfigur des „Zwarten Piet“, eingeräumt wurde.
Das diskursive Ende des „Goldenen Zeitalters“
Das „Goldene Zeitalter“ der frühneuzeitlichen Niederlande verschwindet allmählich, so will es scheinen, hinter der brutalen Realgeschichte der indischen Sklavereiökonomien und dem strukturellen Rassismus des kolonialen und des postkolonialen Königreichs. Die Zeiten, in welchen das Wirken der beiden Compagnien noch als Ausdruck stolzen Handelsgeistes oder virilen Eroberungsdranges erscheinen sollten, sind zumindest im öffentlichen Diskurs der Niederlande ausgehebelt. — Bereits 2019 hat das stadtgeschichtliche „Amsterdam Museum“ den Begriff des „Goldenen Zeitalters“ symbolträchtig aus seinen Ausstellungstexten gestrichen; er entspräche nicht mehr der Wirklichkeit einer niederländischen Gewaltgeschichte in Übersee. Im vergangenen Jahr folgte schließlich das Amsterdamer Stadtarchiv mit einer Schau zur spezifischen Rolle Amsterdams im Sklavenhandel der niederländischen Ost- und Westindienfahrer. Immer wieder im Fokus also — und so auch in der zu Ende gegangenen Sonderschau des Rijksmuseums — die Amstelstadt selbst, gleichsam als das kalte Herz des niederländischen Sklavenhandels, das im Folgenden näher in den Blick genommen werden soll.
Amsterdam: das wirtschaftliche Zentrum der Nordprovinzen
Im Gefolge des niederländischen Aufstandswirren ab den 1560er-Jahren hat sich hier allmählich das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der Vereinigten (Nord-)Provinzen etablieren können. Gleichermaßen dynamischer Manufakturstandort, Stapel- und Finanzplatz, Schiffsbauzentrum und Marinebasis in einem, vermag die Hafenmetropole alsbald, globale Handels- und Kapitalströme miteinander zu verknüpfen. Handelsfahrer aus West- und Südeuropa, Asien und Amerika, treffen hier aufeinander und sind dabei über Rhein und Elbe, Nord- und Ostsee, zugleich mit den Märkten und Arbeitskräftereservoirs Mittel- und Osteuropas sowie Skandinaviens verbunden. Zum Ende des 16. Jahrhunderts sind diese auf Veredlung, Binnenkonsum und Reexport gerichteten Handels- und Produktionskapazitäten bereits voll ausgebildet und interkontinental-transeuropäisch vernetzt. Im Fokus der lokalen Manufaktur- und Handelsverbünde vor allem: Zucker, Gewürze und Gold sowie Edel- und Färbhölzer, Tuche, Tabak und nicht zuletzt auch atlantisch-karibisches Meersalz.
Die holländische Provinzialkammer der Westindien-Compagnie
Ab 1621 nun, gleichsam als Spinne im Netz der anhebenden Massen- und Plantagensklaverei zwischen Indik und Atlantik: die mächtige holländische Provinzialkammer der Westindien-Compagnie mit Sitz in Amsterdam, deren Repräsentanten 40 % des Gründungskapitals der Westindien-Compagnie beisteuerten und solcherweise das zentrale Leitungsgremium der WIC, den Rat der „Heren XIX“, weitgehend dominieren können; es tagt gleicherweise regelmäßig zu Amsterdam. Für rund einhundert Jahre sind es insbesondere die Netzwerke und Strukturen um die Amsterdamer WIC-Kammer und des mit ihr verbundenen lokalen Patriziats, welche den afrikanischen Menschenhandel, seine Produktions- und Verwertungsstätten, von der Faktorei bis zur Plantage, organisieren und finanzieren.
Amsterdams Patrizierfamilien
Eine vermögende Schicht aus Kaufleuten, Rentiers und Manufakturisten bildet den Kern dieser städtischen Oligarchie. Sendungs- und selbstbewusst, fromm calvinistisch zumeist und vielfach mit sagenhaften Reichtümern gesegnet residieren Amsterdams Patrizierfamilien in den luxuriösen Stadthäusern entlang der Grachten — und auf den feudalen Landsitzen der Umgebung. Jene Patrizier- und Regentenfamilien sind heiratspolitisch eng miteinander verwoben und bilden über Generationen hinweg ein dynamisches Netzwerk aus Innovation, Filz und Vriendjeswirtschaft, aus Ämterhäufung sowie einer über Jahrzehnte hinweg anhaltenden Fähigkeit zu transozeanischer Machtprojektion. Es nimmt nicht wunder, dass allein von den 374 Bürgermeistern und Schöffen Amsterdams, welche die Stadt vom Ende des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts regieren, beinahe die Hälfte auch als Verwalter kolonialer Compagnien fungieren, insbesondere im Dienste von VOC und WIC stehen.
Geschäfte auf dem Atlantik: die WIC als Investitionsvehikel
Das Kapital der hochmögenden Herren ist gleichermaßen in den Bergbauregionen Europas, wie im ostasiatischen Spezereienhandel und dem skrupellosen Geschäft der amerikanischen Siedlungsspekulation investiert. Besondere Bedeutung genießt überdies das brasilianische Zuckerkommerzium. Der lukrative Handel mit Versklavten mittels des Investitionsvehikels der WIC ist für diese Familienverbände zynischerweise häufig also nur eine von mehreren atlantisch-asiatischen Vermögenspositionen. Bereits einfache Bereederungs-, Versicherungs- oder Proviantierungsgeschäfte bieten die Möglichkeit zur Teilhabe am gewinnträchtigen Sklavenhandel von Amsterdam aus. Überdies lockt das erwähnte Geschäft mit der Veredlung von Kolonialwaren wie Zucker, Kattun und Tabak und schließlich der wachsende Konsumgüterhandel mit amerikanischen Pflanzern selbst.
Repräsentanten der Amsterdamer Oligarchie in der Sklaverei-Ausstellung
Vertreter jener Amsterdamer Oligarchie wurden in der Slavernij-Ausstellung des Rijksmuseum auch unmittelbar selbst präsentiert; in Sonderheit die Patriziertochter Oopjen Coppit (1611-1689), die 1633 im Alter von 22 Jahren den Erben einer Amsterdamer Zuckerbäckerimperiums ehelicht, Maarten Soolmans (1613-1641). Dessen Vater, Jan Soolmans, begründete 1607 die größte Zuckerraffinerie Amsterdams. Der Senior verdankt seinen rasanten Aufstieg insbesondere exzellenten Handelsbeziehungen nach Portugal und Brasilien. Das junge Brautpaar indes, das 1634 durch Rembrandt van Rijn porträtiert wird, ist bereits zu Beginn seiner Ehe nach heutigem Wert umgerechnet rund 600.000 Euro schwer.
Drei Jahre vor diesem Ehebündnis hat die Familie gar noch geringe Anteile an der niederländischen Westindien-Compagnie versilbern können; mutmaßlich mit großem Gewinn, ist der WIC doch 1630 gelungen, sich in der strategisch wichtigen brasilianischen Zuckerkapitanie Pernambuco militärisch festzusetzen; die Handelscompagnie ist nunmehr im Begriff, den größten Teil des frühneuzeitlichen Zuckerweltmarktes unter ihre Kontrolle zu bringen: Produktion, Handel und Veredlung sind vorübergehend unter der Flagge Oranjes vereint.
Ein rassistisches Gewalt- und Ausbeutungsregime
Nach dem frühen Tod Martens intensivieren sich die Beziehungen Oopjens mit Brasilien noch einmal: 1647 heiratet sie den Brasilien-Veteran Maerten Daey, der während seiner Zeit in „Nieuw-Holland“ zwei Zuckerrohrplantagen erwarb und in Südamerika zu großen Reichtum gelangte; 1634 sah sich der Offizer jedoch mit Vergewaltigungsvorwürfen sowie fortgesetzter Misshandlung einer seiner Sklavinnen gegenüber. Der weitere Fortgang der Verhöre und Ermittlungen — angestoßen durch den reformierten Kirchenrat von Paraiba – ist nicht überliefert. Daeys Leumund in den Niederlanden tun die Vorwürfe jedenfalls keinerlei Abbruch, wie seine nachfolgenden Heiraten erweisen; 1647 schließlich mit der vorerwähnten Patrizierwitwe.
Sklaven in Amsterdam
Das niederländische Zuckerimperium in Brasilien ist nicht minder ein rassistisches Gewalt- und Ausbeutungsregime, wie jenes der einstigen Herren von Pernambuco. Es findet seine Fortsätze auch im fernen Amsterdam selbst: Dort ist Sklaverei zwar formell verboten, wird aber von den Stadtoberen stillschweigend toleriert, insbesondere mit Blick auf hochmobile Kaufmannsfamilien von der Iberischen Halbinsel, aus Afrika und aus Amerika, die nicht selten auch Sklaven zu ihrem Haushalt gehörig betrachten und mitunter nur für wenige Monate in der Hafenmetropole verbleiben. Die Präsenz von Sklaven innerhalb (luso-)atlantischer Händlerfamilien könnte sich im Gefolge der niederländischen Eroberungen im westlichen Afrika sogar noch einmal erhöht haben; ein 1644 dekretiertes Verbot der Sklaverei in den Stadtgrenzen von Amsterdam mag in diese Richtung deuten.
Expansionsversuche der Westindien-Compagnie nach Afrika (1637-1648)
Zu diesem Zeitpunkt ist der Westindien-Compagnie im Mittelatlantik bereits ein weiterer Expansionsschritt gelungen: die Einverleibung strategisch wichtiger Sklavenhandelsstützpunkte in Afrika. Bereits 1637 konnten Söldnerverbände der WIC die vorerwähnte portugiesische Sklavenveste Elmina annektieren. Zeitweilig gelingt auch die Einnahme eines zweiten Sklavenhandelspunktes der Portugiesen: Luanda in Angola (1641-1648). Über diese Hafen- und Handelsplätze will die WIC ihre brasilianischen Zuckerrohrpflanzungen nun regelmäßig selbst mit afrikanischen Sklaven versorgen. Zuckerproduktion und Sklavenhandel, Zuckerveredelung und Reexport, gehen in der Südatlantik-Strategie der WIC und ihrer Anteilseigner folgerichtig Hand in Hand.
Machtkämpfe im Atlantikraum
Allein die Eroberung der Sklavendepots markiert zugleich den letzten Höhepunkt jener brasilianisch-afrikanischen Expansionsbewegungen: Ab 1645 erschüttert ein Aufstand portugiesischer Kolonisten Niederländisch-Brasilien. Das überdehnte Herrschaftsgefüge der Niederländer zwischen Amerika und Afrika gerät nun rasch ins Wanken. 1648 verliert die WIC bereits die Kontrolle in Angola; 1654 muss sie schließlich auch Brasilien verlassen. Die Generalstaaten und die des Niederlands eigene Westindien-Compagnie können die spanische Monarchie nicht als dominanten Machtfaktor im Atlantikraum ersetzen; und das, obwohl die Iberer gleich an mehren Fronten in Europa und in Übersee bedrängt werden. Stattdessen stoßen Frankreich und England allmählich in das sich abzeichnende Erschöpfungsvakuum der Iberer und der Niederländer am Ende des sogenannten „Achtzigjährigen Krieges“ nach dem Frieden von Münster 1648.
Konkurs: Das Ende der ersten Westindien-Compagnie 1678
In drei aufeinanderfolgenden See- und Landkriegen gegen die neuen merkantilistischen Hegemonen westlich und südlich ihrer Grenzen werden die Niederlande bis 1678 gar selbst als Machtfaktor im Atlantik ausgeschaltet sein. Auch die WIC wird von diesem dramatischen Niedergang erfasst. Kaperkampagnen, Blockaden und Plünderungen erschüttern regelmäßig ihr karibisch-afrikanisches Stützpunktsystem; 1674 geht die Compagnie sodann auch in Konkurs, muss umgeschuldet und in ihrer Kapitalstruktur neu ausgerichtet werden. Im gleich Jahr endet auch der Dritte Seekrieg gegen England. Als sogenannter „Holländischer Krieg“ findet er gegen Frankreich noch bis 1678 seine Fortsetzung; für die WIC bedeutet der nachfolgende Frieden von Nimwegen indes den endgültigen Verlust Nieuw-Nederlands, den durchaus prosperierenden Einflusszonen der WIC in Nordamerika zwischen den Flüssen Delaware und Connecticut; nebstdem büßt sie de facto auch ihre Ansprüche auf Tobago und Tortola ein. Ihre Besitzungen zwischen Amazonas und Orinoco kann Niederlands Händlerpatriziat hingegen halten. — Eine für die Kontinuität der niederländischen Sklavereigeschichte langfristig zentrale Weichenstellung.
Ein „zweites Brasilien“ zwischen Orinoco und Amazonas
Bereits im Gefolge des Rückzuges aus Brasilien ist es innerhalb der WIC und der mit ihr verbundenen Fernhandels- und Investorennetzwerke zu einem partiellen Strategiewechsel für den Atlantikraum gekommen, insbesondere im tonangebenden Amsterdam: Die ältere kontinentale und atlantische Strategie des sogenannten „Groot Dessin“ weicht jetzt weniger ambitiösen Landnahmeprojekte in den Guianas, zwischen Orinocodelta und Amazonasbecken an den Küsten und Binnenflüssen der heutigen südamerikanischen Republiken Guyana und Suriname; eine Art „zweites Brasilien“ entsteht hierbei als integrierte Plantagenökonomie mit Forts, Faktoreien und Ansiedlungen entlang der Flüsse Suriname, Essequibo und Berbice. Ihre Anfangsgründe und Vorrechte liegen teils noch vor der Gründung der WIC 1621 und gewinnen nach dem Brasilien-Desaster und der machtpolitischen Neutralisierung der Republik in den europäisch-atlantischen Hegemonialkriegen zwischen 1652 und 1678 immer stärker an Bedeutung.
Plantagenkolonien entlang der Wilden Küste
Die Verwerfungen seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts haben für die niederländische Westindien-Compagnie weitreichende Konsequenzen: Für Guyana wird nun nicht länger ein allprovinziales Monopolgebiet definiert; von den Generalstaten erhält die Westindien-Compagnie 1674 nurmehr gesonderte Charterrechte am Essequibo, während für die Pflanzerkolonien Suriname und Berbice ältere particuliere oder provinziale Konzessionen und Sonderrechte fortgelten, insbesondere Eroberungsrechte der Provinz Seeland aus den 1660er-Jahren, als eine seeländische Flotte englische Pflanzungen im heutigen Suriname erobern kann (Zweiter niederländisch-englischer Krieg, 1665-1667); im Frieden von Breda können die Generalstaaten 1667 das Gebiet bereits erstmals gegen den Verlust Nieuw-Nederlands kompensieren. Die ab 1624 verstärkt ausgebaute Kolonie der Pelzhändler und Bauereien fällt, wie erwähnt, 1678 endgültig an England.
Die „Sozietät von Suriname“ und die „Sozietät von Berbice“
Ungeachtet der stärkeren Präsenz seeländischer Mercatoren zeigt sich an der Wilden Küste und ihren Binnenflusssystemen alsbald das ungebrochene Vormachtstreben der alten Amsterdamer WIC-Netzwerke: 1683 werden die Pflanzungen in Suriname unter die Aufsicht einer Kolonisationsgesellschaft gestellt, an der sich unter anderem die WIC und die Stadt Amsterdam direkt beteiligen; die sogenannte „Sozietät von Suriname“ entsteht, die zeitweilig auch im neuen Hauptkontor der WIC am Singel, im inneren Grachtengürtel Amsterdams, residiert. In den weiter westlich gelegenen Flusssystemen der guyanischen Küstenzonen etabliert sich bis 1720 überdies die „Sozietät von Berbice“; und auch diese zweite Landbaucompagnie steht unter der Ägide Amsterdamer Handelsherren. Längs der Flüsse Essequibo, Demerara, Berbice und Suriname bilden sich nun allmählich vier große Plantagenkomplexe aus; ein eng miteinander verknüpfter Wirtschaftsraum entsteht, in welchem neben Zucker ab den 1720er-Jahren verstärkt auch Kaffee angebaut wird. 1724 kommt surinamischer Kaffee erstmals auf den Amsterdamer Markt.
Dienstanbieter im Atlantik- und Westindienhandel
Für die Amsterdamer Kaufmannsklasse und ihre niederländischen wie europäischen Mitbewerber bieten sich in den Guianas vielfältige Investitionsmöglichkeiten, etwa bei der Finanzierung von Plantagien, aber auch bei Schiffsbauten und Equipagen. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts treibt die überseeischen Geschäfte zudem ein neues, in Amsterdam entwickeltes Finanzinstrument, die sogenannte „Plantagenhypothek“; in einem freien Fondssystem werden hierbei Investoren, Pflanzer und Bankiers zusammengeführt und dadurch der Zugang zu Plantagenkrediten, Besitztiteln und Risikokapitalanlagen deutlich erleichtert — der Beginn eines letztlich fatalen Spekulationswettlaufs, wie sich alsbald zeigen wird. —Die WIC indes verlegt sich nun verstärkt auf die Bereitstellung einer abgabenfinanzierten Infrastruktur, insbesondere durch Betrieb und Unterhalt von Warenmagazinen, Depots und Verteidigungssystemen sowie einer kleinen Flotte von Fracht- und Kriegsschiffen in den intrakolonialen Seeverkehren. Die etabliertere WIC fungiert jetzt gleichsam als halbstaatlicher Dienstanbieter — ein militärisch-logistisches Organisationsgehäuse der sich allmählich etablierenden Westindien-Lobby und ihrem atlantikweit immer freier zirkulierenden Kapital.
„Asiento de Negros“: Der Sklavenhandel der WIC über Curaçao
Der lukrative, aber ungleich riskantere Sklavenhandel nimmt hingegen noch längere Zeit eine Sonderstellung ein: Auch nach der „Faillite“ der WIC 1674 bleibt die Gesellschaft im atlantischen Sklavenhandel aktiv und kann sich vor allem auf dieser Grundlage auch wieder konsolidieren. Dabei beliefert die Compagnie nicht allein niederländische Plantagenkolonien und Zuckereilande: Ab den 1670er-Jahren klinkt sich die Compagnie auch stärker in den Sklavenhandel mit spanischen Kolonisten ein. Das während der Brasilien-Kampagnen 1634 eroberte Curaçao vor der Küste Venezuelas nimmt hierbei eine Schlüsselfunktion ein. Unter direkter Kontrolle der WIC-Kammer Amsterdam stehend werden von den dortigen Sklavendepots auch sogenannte „Asiento de Negros“ bedient; spanische Sklavenhandelslizenzen, die per Subkontrakt an WIC-Kaufleute weitergegeben wurden. Die diplomatisch heiklen Verbindungen werden teilweise über iberische Kaufmannskolonien in Amsterdam vermittelt. Bereits 1662 unterzeichnen zwei Amsterdamer Bevollmächtigte der WIC Verträge mit jenen als „Asentistas“ bezeichneten Lizenznehmern.
Merkantilistische Konkurrenz
Die merkantilistischen und national-partikularen Interessen der europäischen Konkurrenz erschweren es der WIC jedoch bald, die Funktion eines vermeidlich neutralen Maklers im Sklavenhandel und in den interkolonialen Negotien aufrechtzuerhalten. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts haben die Geschäfte im atlantischen Sklavenhandel zwar deutlich zugenommen; eine Folge insbesondere des karibisch-amerikanischen Zuckerbooms, welcher etwa den wirtschaftlichen Aufstieg von Antilleneilanden wie St. Kitts oder Nevis kennzeichnet; diese werden zuweilen auch klandestin mit Sklaven beliefert werden. — Die WIC steht dabei jedoch nun verstärkt im Wettbewerb mit Sklavenhändlern unter der Protektion englischer, französischer oder dänischer Handelsgesellschaften; ingleichen mit Schmugglern und umherstreifenden Seeräubern. Während der 1680er- und 1690er-Jahre konkurriert die WIC regional auch mit einer Atlantikunternehmung unter brandenburgischer Flagge, der sogenannten “Brandenburgischen Africanisch-Americanischen Compagnie“ (BAAC).
Partieller Rückzug der Westindien-Compagnie aus dem Sklavenhandel
1713, nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges, verliert die Westindien-Compagnie ihre Position im Asiento-Sklavenhandel jedoch an die dynamischeren Handelsnetze der Engländer. Für die WIC und ihre Investoren ist eine direkte Kontrolle des niederländischen Sklavenhandel nun nicht mehr länger von Belang. 1734 öffnet die Compagnie den Handel mit afrikanischen Sklaven daher auch für particuliere Kaufleute aus den Niederlanden. Gegen Gebühren und Abgaben freilich, sogenannte Lastgelder bzw. Recognitionen, dürfen diese nun das Monopolgebiet der Westindischen Compagnie als freie Sklavenhändler befahren. Der letzte compagnieeigene Sklavenholer erreicht somit bereits 1738 die Goldküste. Fortan beteiligt sich die WIC nicht mehr länger direkt am atlantischen Sklavenhandel. Neue niederländische Sklavenhandelsakteure treten nun auf den Plan, voran etwa die „Middelburgsche Commercie Compagnie“ oder das Rotterdamer Handelshaus „Coopstad & Rochussen“.
Wachsende Bedeutung des Sklavenhandels auf Sint Eustatius
In der Folge marginalisiert dies auch Curaçaos bisherige Vorrangstellung in den Sklavenkommerzien des Atlantiks. An seine Stelle tritt das weiter nördlich gelegene Sint Eustatius. Die nur 21 km² große Antilleninsel entwickelt sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts zum bedeutendsten Stapelplatz der WIC in der Karibik und zu einem der Zentren des karibischen Schmuggelhandels; was aus der Perspektive der Amsterdamer WIC- und Westindien-Netzwerke vor allem der wachsenden Bedeutung des Zuckerrohranbaus im gesamten Antillenbogen geschuldet ist. Bereits 1721 erreicht mit dem berüchtigten WIC-Sklavenholer LEUDSEN erstmalig ein niederländischer Schiff auf direktem Wege von der Westküste Afrikas aus das beschauliche Vulkaneiland im Zentrum der kleinantillianischen Inselkette.
Für das wachsende Sklavenhandelsvolumen in der Region wird auf Sint Eustatius unter anderem ein Depot für bis zu 400-450 Verschleppte errichtet; als Teil der Küstenbatterie „Fort Amsterdam“ am nordwestlichen Rand des heutigen Oranjestad. Bereits in den 1720er-Jahren gehen einige Kontingente der statianischen Sklavenlieferungen auch nach Britisch-Nordamerika. Wichtigste Handelspartner für „Eustatias“ Kaufmannschaft sind jedoch insbesondere die Pflanzer des unmittelbar benachbarten St. Kitts, desgleichen die französischen Kolonisten zwischen Saint-Domingue und den Inseln über dem Winde sowie das Plantagensystem Dänisch-Westindien.
Aufstieg und Fall des statianischen Emporiums
Unter ihren oftmals gewieften WIC-Gouverneuren kann „Statia“ im 18. Jahrhundert auch einen beträchtlichen Teil der Zuckerernten im nordöstlichen Antillenbogen selbst anziehen und kostengünstig in die Niederlande reexportieren. Noch vor Beginn der atlantischen Revolutionskriege steigt Sint Eustatius somit zum Hauptlieferanten niederländischer, das heißt vor allem auch Amsterdamer Zuckerraffinerien auf; weit vor der intrakolonialen Konkurrenz an den Küsten Guyanas. Erst der britische Admiral George Rodney vermag 1781 während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges dem verruchten Emporium der Schleichfahrer und Sklavenhändler ein Ende zu bereiten. Von der Ausplünderung des einträglichen Handelsstützpunktes wird sich Sint Eustatius nie wieder ganz erholen, obgleich das Eiland bereits 1784 wieder an die Generalstaaten abgetreten wird.
Auflösung der niederländischen Westindien-Compagnie
Die desaströsen Wirkungen der antillianischen Raub- und Revolutionskriege wiegen umso schwerer, als sich entlang der niederländisch-guyanischen Ansiedlungen bereits seit den 1770er-Jahren eine schwere Finanzkrise abzeichnet: die Spekulationsblase im Geschäft mit Plantagenhypotheken ist geplatzt und ruiniert viele Vermögen zwischen Guyana und Amsterdam. Auch die WIC nimmt hierdurch schweren Schaden und muss wenige Jahre später endgültig liquidiert werden. Ab 1792 übernimmt der niederländische Staat Verwaltung und militärischen Schutz der einstigen WIC-Besitzungen und Konzessionsgebiete in Westafrika, der Karibik und in Guyana. Inmitten der Krisenepoche der Atlantischen Revolutionskriege bleibt dies jedoch nur ein formeller Akt, der durch die massiven Eroberungs- und Plünderkampagnen der Briten, wie erwähnt, rasch konterkariert wird.
Der Sklavenaufstand von Curaçao, 1795
Auch der haitianische Sklavenaufstand als Teil der Atlantischen Revolutionskriege zeitigt seine Folgen in Niederländisch-Westindien: Im August 1795 kommt es auf Curaçao zu einer letzten großen Sklavenrebellion. Die Vereinigten Provinzen sind in dieser Phase bereits als „Batavische Republik“ dem revolutionärem Frankreich angeschlossen und geraten solcherweise in die Aufstandsdynamiken der sich ab 1793 selbst befreienden Sklaven von Haiti. Einige der dortigen Plantagenbesitzer fliehen von Saint-Domingue teils nach Curaçao — unter gewaltsamer Mitnahme eines Teils ihrer Sklaven. In der Folge verbreitet sich die revolutionäre Stimmung der Versklavten auf den Landgütern und Plantagen rund um die Hauptsiedlung der Insel, Willemstad.
Tula und Lohkay in der Amsterdamer Sklaverei-Ausstellung
Widerstand und Freiheitsstreben bildeten folgerichtigerweise auch den Abschluss der biografiezentrierten Slavernij-Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum. Neben dem bereits erwähnten curaçaoischen Aufstandsführer und Freiheitsstreiter Tula begegnete dort im letzten Expositionssaal eine weitere legendarische Gestalt niederländisch-antillianischer Widerstandsgeschichte, die nun unmittelbar auf die Emanzipation der karibischen Sklaven im 19. Jahrhundert führt: die Figur der einstmals versklavten Sint-Maartenarin Lohkay („Lucky“). Ungeachtet schwerster Misshandlungen durch ihre selbst ernannten „Herren“ soll sie immer wieder in Wald und Busch rund um die niederländisch-englischen Plantagien Sint Maartens entkommen sein. Es gibt Vermutungen, dass Lohkay ursprünglich von der Plantage „Industry“ stammte. — Auf dem gut erhaltenen Areal wurden noch 2017 die sterblichen Überreste von sieben Menschen entdeckt; mutmaßliche Opfer einer Pandemie, die während der Atlantischen Revolutionskriege hastig in Erdlöchern verscharrt werden mussten.
Emanzipation der Sklaven auf Sint Maarten 1848
In der niederländischen Sklavereigeschichte des Atlantiks nimmt Sint Maarten eine historische Sonderstellung ein. Bereits 15 Jahre vor der offiziellen Abschaffung der Sklaverei in Niederländisch-Westindien im Jahre 1863 muss dort, in der ältesten WIC-Gründung der Inselkaribik, das tradierte Versklavungssystem aufgeben werden. Ursächlich hierfür ein seit 1648 festgelegtes Kondominium, welches die nur 87 km² große Karibikinsel in einen niederländischen und einen französischen Gebietsteil separiert.
Als in der französischen Pflanzerkolonie im Nordteil der Insel 1848 die Sklavenbefreiung ausgerufen wird, wächst auch für die Plantagenbetreiber des Südens der Druck, ihre Sklaven ebenfalls zu emanzipieren. Marronagen der Sklaven nach dem Nordteil und benachbarten Eilanden drohen, die wirtschaftlich ohnedies in Schieflage geratenen „Master“ des niederländisch-verwalteten Inselteiles vollends zu ruinieren. Eine faktische Abschaffung der dort seit den 1650er-Jahren fest etablierten Sklaverei erscheint so unausweichlich. An ihre Stelle tritt auf Sint Maarten nunmehr ein hastig etabliertes Lohnarbeitssystem; zur Rettung der zumeist englisch-kreolischen Plantagenbesitzer Sint Maartens — im wenngleich wenig aussichtsreichen Kampf gegen die europäische Zuckerrübe und die fortschreitende Mechanisierung der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert.
Arbeitspflicht und Abolition 1873
Wie sehr die Entscheidungen der niederländischen Kolonialadministration in dieser Phase immer wieder vor allem die Perspektive der niederländischen Westindien-Lobby einzunehmen versuchen, erweist auch der folgende Umstand: auf die 1863 schließlich für sämtliche niederländische Westindienbesitzungen verkündete Abschaffung der Sklaverei folgt für Suriname sogleich eine konterkarierende zehnjährige „Arbeitspflicht“ der afrikanischstämmigen Bevölkerung auf den Ländereien der einstigen Sklavenhalter. Aus dem historischen Rechtsinstitut der Sklaverei konstruierte „Arbeitsverbindlichkeiten“ enden in Suriname somit erst im Jahre 1873.
— Ohnedies vermag die Emanzipation von rund 45.000 Menschen aus der Sklaverei nachfolgende Transformationen der Ausbeutung nicht zu verhindern; viele der ehemals Versklavten zieht es in die Arbeitsmigration, in das Prekariat nordamerikanischer Großstädte oder in die Wander- und Saisonarbeitssysteme der Karibik. Entschädigungen erhalten die Versklavten Niederländisch-Westindiens nie, wohl aber ihre einstigen „Master“: Diese können dem niederländischen Staat 200 Gulden je emanzipiertem Sklaven auf ihren westindischen Besitzungen in Rechnung stellen.
Amsterdams Anteil am transatlantischen Sklavenhandel
Obgleich bereits 1803 das letzte niederländische Sklavenhandelsschiff in Paramaribo vor Anker gegangen ist, dauert das System der niederländischen Sklaverei, und mit ihr Schmuggel sowie intra- und interkoloniale Sklavenhandelssysteme, noch mindestens also zwei Generationen fort; lediglich die luso-brasilianische Escravidão währt noch länger. Von den erwähnten 600.000 Versklavten, die an Bord niederländischer Schiffe seit dem Ende des 16. Jahrhunderts nach Amerika verschleppt wurden, gelangte bis 1803 rund die Hälfte auch nach Suriname.
Amsterdams unmittelbarer Anteil an diesem transatlantischen Sklavenhandel wird in der Forschung auf rund 135.000 Versklavte geschätzt. Es wird angenommen, dass etwa 20.000 Menschen hierbei bereits die Überfahrt nach Amerika nicht überleben. Wer lebend die Antillen und die Guianas erreicht, muss Krankheit und Erschöpfung, aber auch massive Gewaltakte gewahren: Totschlag und möglicherweise auch Fälle von Zwangsamputationen prägen das niederländische Sklavereiregime in Amerika. Über personelle Verbindungen in Verwaltung und Gerichtsbarkeit nimmt die Regentenelite Amsterdams unmittelbar selbst Einfluss auf dieses Sklavenregiment, setzt für Westindien beständig rechtliche und diskursive Rahmenbedingungen, formuliert Strategien der Aufstandsbekämpfung, der Bestrafung und der Unterdrückung.
Herengracht 502: Macht und Reichtum in den Negotien des Atlantiks
Auf nachgerade irritierende Weise verbindet die heutige Amtswohnung des Amsterdamer Bürgermeisters die engen Verquickungen der lokalen Regentenelite mit dem Sklavenregime im Westen: Das repräsentative Gebäude an der Herengracht 502 wird 1672 für den Amsterdamer Kaufmann Paulus Godin (1615-1690) fertiggestellt, Nachsasse einer wallonischen Exulantenfamilie; Vater David ist in der seeländischen Kammer der VOC investiert; Onkel Samuel Anteilseigner der Westindien-Compagnie, des Weiteren Initiator einer kurzlebigen Siedlungscompagnie im heutigen Delaware und formell Patron des von der WIC beanspruchten Tortuga vor der Küste Hispaniolas.
Auch Paulus Godin kann den Reichtum der Familie aus den südlichen Niederlanden mehren, wird Bewindhebber der Westindien-Compagnie, ab 1675 auch Asiento-Lieferant für Curaçaos Sklavenmarkt — und schließlich Directeur der Amsterdamer Sozietät von Suriname. Paulus‘ Nachkommenschaft verbleibt in den Kommerzien des Atlantiks und verheiratet sich in Amsterdams führende Familien. Paulus‘ einzige Tochter etwa ehelicht den Bürgermeistersohn Cornelis Bors van Waveren (1662-1722), welcher gleichfalls über exzellente Verbindungen in die Netzwerke der Amsterdamer Westindien-Fraktion verfügt.
Amtswohnung der Amsterdamer Bürgermeister seit 1927
Ab 1907 gehört das Haus an der Herengracht Directeuren der „Nederlandschen Handel-Maatschappij“ (1824-1964), einer Kaufmanns- und Bankiersstruktur für den niederländischen Ostindienhandel; etabliert nach der Auflösung der VOC im Gefolge der Napoleonischen Kriege. 1927 wird der Bau schließlich der Stadt Amsterdam vermacht. Fortan wohnen hier Amsterdams Bürgermeister mit ihren Familien, dient das Haus überdies Veranstaltungen der Stadtgemeinde Amsterdam. Erst 2006 erhält die Amtswohnung eine Plakette, die an den einstigen Bauherren des Stadthauses, den vermögenden Sklavenhändler Paulus Godin, erinnert.
Blutgeld und Goldene Kutsche
Zu diesem Zeitpunkt sind in Kommune und Königreich bereits tiefergreifende gesellschaftliche Wandlungsprozesse vernehmlich, welche die historischen Ausbeutungs- und Gewaltmechanismen der Handelsmetropole unbedingt stärker sichtbar machen wollen: An die Stelle eines auch religiös und dynastisch verbrämten Zivilisierungspathos, welcher alle Schrecknisse der niederländischen Kolonial- und Sklavereigeschichte über Generationen hinweg zu überstrahlen hatte, sind allmählich Skepsis und Distanz getreten. Das Bewusstsein einer schweren historischen Bürde verunsichert und dominiert auch in den Niederlanden immer mehr tradierte Kolonialdiskurse. Die Sklavereiausstellung des Rijksmuseums mag dies neuerlich belegt haben und unterscheidet die Niederlande der Gegenwart — als einer post-imperialen Gesellschaft – einmal mehr vom eigentümlichen Changieren innerhalb vergleichbarer Kolonialdiskurse in anderen Teilen Europas.
Gleich ob Portugal-Iberien, Großbritannien oder Frankreich, um die wichtigsten Akteure des transatlantischen Sklavenhandels zu nennen — die eigentlichen Konfliktzonen dieser Veränderungsprozesse betreffen auch in den Niederlanden vorwiegend zentrale National- und Staatssymbole, etwa eines der berühmtesten Kunstmuseen des Landes, das Amsterdamer Mauritshuis, errichtet durch den vorerwähnten WIC-Gouverneur in Brasilien, Johan Maurits van Nassau-Siegen, obendrein ein Neffe des legendären Republikvaters Willem van Oranje. — 2017 verschwindet sein Brustbild vorübergehend im Kellerdepot des Gemäldekabinetts. Was weite Teile der niederländischen, insbesondere der konservativen Öffentlichkeit daraufhin empört, ist vor allem die angebliche Begründung für das Entfernen der Büste: Johan Maurits habe sein Vermögen im transatlantischen Sklavenhandel verdient und solcherweise sei das Stadtpalais des Fürsten mit dem Blutgeld der Ausbeutung bezahlt; Ausgangspunkt einer heftigen medialen Debatte um postkoloniale Geschichtsbilder und vermeidliche Bilderstürme.
— Oder die berühmte „Goldene Kutsche“ des niederländischen Königshauses, welche bis heute kolonialrassistische Huldigungsszenen aus dem 19. Jahrhundert ziert. Sie mag nach ihrer Restaurierung nurmehr museales Objekt bleiben, so die Erwartung vieler kolonialkritischer Aktivisten und Aktivistinnen in den Niederlanden, als dass sie auch nur einen weiteren Prinzentag lang durch die Straßen einer niederländischen Stadt fahre.
Erinnerung an das Slavernijverleden
Diese diskursiven Entwicklungen und die Schärfe, mit welcher sie inzwischen geführt werden können, reichen teils weiter in die Vergangenheit zurück. Amsterdam steht als kulturelles Zentrum des Landes und als historisch bedeutsamer Versklavungsakteur unweigerlich und seit Längerem schon im Mittelpunkt diskurspolitischer Agitation; insbesondere Basisinitiativen und Gruppen aus den afro-surinamischen und -antillianischen Gemeinschaften der Niederlande treiben und begleiten diese Entwicklungen bereits seit Jahrzehnten. Wichtige Wegmarken bilden für Amsterdam — und das Königreich als Ganzes – etwa der Keti-Koti-Demonstrationszug vom 1. Juli 1963, dem Festtag der gesprengten Ketten in Erinnerung an den Zentenar der Abschaffung der Sklaverei; oder die Enthüllung eines Nationalmonuments zum Gedenken an die niederländische Sklavereigeschichte im Amsterdamer Oosterpark am 1. Juli 2002.
Sammelband zur Sklavereigeschichte Amsterdams 2020
Insbesondere parteipolitisch bedeutsam schließlich ein Ereignis im Vorgriff aus das WIC-Gedenkjahr unserer Tage: 2019 votiert der Gemeinderat der Stadt Amsterdam mit breiter Mehrheit für eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung der Rolle der Amstelmetropole im west- und ostindischen Sklavenhandel. Ergebnis der Ratsentschließung ist ein sodann 2020 erschienener Sammelband mit rund 40 Beiträgen zur Sklavereigeschichte Amsterdams, der sich den kritischen Diskursen des Rijksmuseum im Gedenkjahr gleichsam lokalgeschichtlich fundiert anschließt: „De Slavernij in Oost en West. Het Amsterdam-onderzoek“. Die Überblicksdarstellungen und Einzelstudien des umfänglichen Bandes zur Geschichte von WIC und VOC folgen im Wesentlichen den Grundannahmen der zeitgenössischen niederländischen und internationalen Sklavereihistoriografie. Das Sammelwerk gibt der Fülle zivilgesellschaftlichem und geschichtspolitischem Engagements in der Stadt gebührenden Raum, verfolgt den strukturell durchaus gewichtigen Aspekt der Versklavung Indigener durch Niederländer, etwa in den Guianas oder auf den Antillen, jedoch nicht systematisch.
Sklavereigeschichtliche Publikationen im WIC-Gedenkjahr 2021
Auch zu den niederländischen Kommunen Rotterdam und Utrecht liegen im WIC-Gedenkjahr 2021 nunmehr Untersuchungen zur je eigenen Rolle im internationalen Sklavenhandel vor. Sie wurden ebenfalls im kommunalen Auftrag erstellt und in den beiden renommierten niederländischen Verlagen Walburg und Boom veröffentlicht. In diesen Wochen wird die Welle an Neuerscheinungen und Übersetzungen zum Slavernijverleden schließlich ihren Höhepunkt erreicht haben. Für den niederländischsprachigen Buchhandel angekündigt waren unter anderem Publikationen von Henk den Heijer, Karwan Fatah-Black, Piet Emmer, Marjoleine Kars und Reggie Baay. Von dem surinamesisch-niederländischen Historiker Leo Balai, einem Spezialisten für den Amsterdamer Sklavenhandel, stammt im WIC-Gedenkjahr 2021 schließlich die Studie „Herengracht 502: Slavenhandel, geweld en hebzucht 1672-1927“. Sie befasst sich unmittelbar mit der Geschichte des wohl symbolträchtigsten Ortes jener Amsterdamer Beteiligung im internationalen Sklavenhandel, dem Stadtpalais des Paulus Godin.
Literatur
- Balai, Leo, Geschiedenis van de Amsterdamse Slavenhandel. Zutphen ²2019.
- Brandon, Pepijn et al., De Slavernij in Oost en West. Het Amsterdam-onderzoek. Amsterdam 2020.
- Klooster, Wim, The Dutch Moment. War, Trade, and the Settlement in the Seventeenth Atlantic-World. Ithaca 2016.
- Sint Nicolaas, Eveline; Smeulders, Valika et al. Slavernij: het verhaal van João, Wally, Oopjen, Paulus, Van Bengalen, Surapati, Sapali, Tula, Dirk, Lohkay. Amsterdam 2021.
- Welie, Rik van, Slave Trading and Slavery in the Dutch Colonial Empire: A Global Comparsion. In: New West Indian Guide/Nieuwe West-Indische Gids, Vol. 82 No. 1 & 2 (2008). S. 47-96.