
Lokale Legenden wollten es schon immer gewusst haben: Die berühmten Wildpferde von Assateague und Chincoteague, zwei Barriereinseln vor der amerikanischen Ostküste, stammen ursprünglich von einem spanischen Schiff; dessen equine Ladung, bestehend aus robusten spanischen Arbeitspferden, sei im Gefolge einer Havarie an Land geschwommen und hätte sich hernach am östlichen Rand der Chincoteague-Bucht zu einer stattlichen Herde ausgewachsen; unbändig und frei, vor den Küsten der heutigen US-Bundesstaaten Virginia und Maryland. Eine neue phylogenetische Studie macht die Spekulationen um geheimnisvolle spanische Galeonen und schwimmstarke Cargazonen zumindest um einiges plausibler.
Ein 1980 ausgegrabener „Kuhzahn“ aus Haiti
Der tatsächlichen Herkunft der verwilderten Pferde kam ab etwa 2021 ein Wissenschaftler am Florida Museum of Natural History auf die Spur. Der Anthropologe Nicolas Delsol forschte eigentlich zu Domestizierungsprozessen bei kolonialzeitlichen Hausrindern. Eine seiner Proben, gemäß Fundkatalog ein 1980 ausgegrabener „Kuhzahn“ aus Haiti, erwies sich bei einer obligatorischen DNS-Sequenzierung überraschenderweise als Molar eines Hauspferdes. Schnell war klar: Reichlich zufällig hatte Delsol hier die bislang älteste DNS eines domestizierten Pferdes in Amerika, eines Equus caballus, sequenziert. Doch wie war aus dem Zahnbein eines Pferdes rund 40 Jahre zuvor fälschlicherweise ein Rindermolar geworden?
Puerto Real — einer der ältesten spanischen Siedlungen auf Hispaniola
Laut der im Juli veröffentlichten Studie mit Delsol als Erstautoren stammt der equine Mahlzahn aus einer der ältesten spanischen Siedlungen auf Hispaniola: Puerto Real. Die kolonialspanische Ciudad im Norden der heutigen Republik Haiti wurde bereits 1503 als Bergbau- und Agrarsiedlung etabliert, 1578 jedoch von den Behörden in Santo Domingo wieder aufgelöst — aufgrund fortgesetzter Handelsaktivitäten der Bewohner mit Corsaren und Monopolbrechern. Der ominöse, 0,5 g schwere Backenzahn fand sich 1980 in der stratigrafisch jüngsten Bodenschicht Puerto Reals. Diese wurde auf die Jahre zwischen 1578-1605 datiert, somit in die früheste Formierungsphase der karibischen Bukanier-Kultur; jener rauen Welt irregulärer Marginal- und Streusiedlungen im Norden Hispaniolas; allmählich dominiert von ehemals Versklavten, entlaufenen Knechten, Schmugglern, freien Subsistenzagrariern, Jägern und — schließlich Küstenpiraten.
Ein falsch zugeordnetes Zahnfragment
— Bei den Ausgrabungen im Bereich der einstigen Stadtkirche von Puerto Real wurde das unscheinbare Zahnfragment schlichtweg also falsch zugeordnet. Überreste von Pferden sind in den Abfallhaufen spanischer Kolonialsiedlungen eher eine Seltenheit; Equidae waren keine Nahrungslieferanten und nur Personen mit hohem sozialen Status vorbehalten; typischerweise den Inhabern von Landtiteln und Viehwirtschaften, etwa Hidalgos, Encomenderos beziehungsweise Rancheros. Und eben jene waren im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts zumeist nach Süden umgesiedelt.

Hispaniolische Verwandtschaft: Amerikanische Chincoteague-Ponys
— Doch das Dentin barg noch weitere Überraschungen: Ein phylogenetischer Vergleich der equinen DNS aus Puerto Real mit anderen Pferdepopulationen, insbesondere solchen in Amerika, erwies nächste Verwandte rund 1.000 km weiter nördlich, auf den vorerwähnten Barriereinseln Assateague und Chincoteague. Die Herkunft dieser kompakten, ponygroßen Wildpferde der Unterart „American Chincoteague pony breed“ beziehungsweise „Assateague horse“ ist, wie erwähnt, seit Jahrhunderten Gegenstand folkloristischer Fabulierfreude. Gegen die These einer kolonialspanischen Verbringung auf die Inseln sprach lange Zeit ein ganz grundsätzliches Problem: Wrackfunde oder schriftliche Aufzeichnungen zu einer Havarie mit Pferdecargazonen in der besagten Küstenregion fehlen. — Dies gilt auch für die 1750 vor Assateague schiffbrüchige LA GALGA aus Kuba als möglicher Ursprung der Wildpferde auf den Barriereinseln: Auch für die GALGA existieren in spanischen Archiven bisher keinerlei Hinweise auf eine Ladung mit Pferden an Bord.
Unbekannte spanische Erkundungsfahrten in den Mittelatlantikraum
Die paläogenetische Studie des Florida Museum of Natural History erklärt zu diesem wichtigen Komplex noch einmal grundsätzlich: Von den Spanischen Antillen aus stießen immer wieder gutgerüstete Erkundungsfahrten und Expeditionen nach Norden vor — und zwar bis in den Bereich der Chesapeake-Bucht und während des gesamten 16. Jahrhunderts. Ebenso setzten sich Handelsbeziehungen jedweder Art zwischen der Karibik und der Mittelatlantikregion kontinuierlich bis in das 19. Jahrhundert fort. Schriftliche Aufzeichnungen über diese Fahrten liegen naturgemäß nur spärlich vor. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht stattfanden.
Naturschutzgebiet östlich der Chincoteague-Bucht
Wann und wie auch immer die zähen Unpaarhufer an den Ostrand der Delmarva-Halbinsel gelangt sein mögen — ihr Fortbestand in freier Wildbahn auf Assateague- beziehungsweise Chincoteague scheint gesichert. Seit Längerem stehen die Wildpferde nun schon unter behördlichen Schutz. 2001 waren es bereits wieder 175 Exemplare im Bereich der Naturrefugien östlich der Chincoteague-Bucht, nachdem sich die Population Mitte der 1960er-Jahre noch stark dezimiert zeigte. Heute verteilen sich rund 230 Chincoteague-Ponys auf zwei Herden im litoralen Grenzgebiet zwischen den US-Bundesstaaten Virginia und Maryland. Insgesamt leben gegenwärtig etwa 86.000 Wildpferde in den Vereinigten Staaten. Viele von ihnen stammen ursprünglich aus kolonialspanischen Herden. Weitere DNS-Analysen könnten genaueren Aufschluss über die Phylogeografie der Tiere liefern.