Start Museen & Ausstellungen Wimmelnde Wunderkammern: Ausstellung in Amsterdam

Wimmelnde Wunderkammern: Ausstellung in Amsterdam

Schmetterling Raupe Suriname Maria Sybilla Merian Pomelobaum
Maria Sibylla Merian (1647-1717): Motte der Familie Uraniidae am Zweig eines Pomerolbaumes. — „Diese große und herrliche Frucht wird Pampelmuse in Suriname genannt“, heißt es in ihrer 1705 veröffentlichten „Metamorphosis insectorum Surinamensium“; das Aquarell auf Pergament ist als Leihgabe der britischen Krone ab September in der Amsterdamer Ausstellung „Onderkruipsels“ („Kreuchgetier“) zu sehen. Bild: Royal Collection Trust/© Her Majesty Queen Elizabeth II 2022

Im europäischen Mittelalter gelten Insekten noch als Symbole des Todes und der Vergänglichkeit; Handlager des Teufels, die wie aus dem Nichts an Orten der Verwesung erscheinen. Zwischen Moder und Mist herrscht allüberall ein bedrohliches Gewimmel. — Doch „het kruipend gedierte des aardbodems“, wie es ab 1637 in der niederländischen Staatenbibel heißen wird, ist unzweifelhaft auch das Werk des christlichen Schöpfergottes. Und dessen Werke sind gewaltig: Wähnen sich die ibero-lateinischen Entdecker der Neuen Welt vorübergehend noch an den Pforten des Paradieses selbst, so genügt der europäischen Kaufmannschaft alsbald die nüchterne Kommodifizierung aller Geheimnisse Ost- und Westindiens — exotische Naturalienobjekte inklusive; aufgeklaubt, aufgelesen in den Landschaften rund um die Faktoreien und Fortetressen der Neuen Welten in Westafrika, Ost- und Westindien.

Wunderkammer und Waldstillleben

Doch die transozeanischen Vernetzungen der Frühen Neuzeit sorgen nicht einfach für die Etablierung eines beliebigen Exotica– und Curiosa-Handels. Sie setzen auch eine wissenschaftliche Revolution in Gang: Der eher demutsvoll gesenkte Blick des Mittelalters gen Boden wird mit der Renaissance nun zur still-faszinierten Beobachtung, zur maniehaften, systematisierenden Sammelleidenschaft — schließlich zur mikroskopischen Linsenschau der Welt. — Auch und gerade dank niederländischer Brillenmacher, welche um 1600 gar die ersten Mikroskope entwickeln. Die Schöpfung wird geordnet, die Wälder gelichtet und geräumt.

Schlangen und Schmetterlinge über dem Gräbergrund

Im Gefolge der Renaissance wird das Bodengewimmel zur neuen Wunderwelt, zum Objekt künstlerischer und wissenschaftlicher Studien. Beständig wird es aufgenommen, herangeholt, unter die Lupe genommen. Ob tot oder lebendig entfaltet sich den Zeitgenossen ein unerschöpfliches Faszinosum, das unaufhörlich aus dem kalten Gräbergrund wächst — kreuchend und fleuchend und voller Lebendigkeit. — In den dunkel-leuchtenden Waldstillleben eines Otto Marseus van Schrieck (1619/20-1678) mit ihren exotisch anmutenden Schlangen, Schmetterlingen, Fröschlein, Eidechsen, Krabblern und Käfern scheinen die Naturräume der Alten und der Neuen Welt kompositorisch geradewegs zu verschmelzen.

Anzeige

Onderkruipsels/Crawly Creatures: Kunsthistorische Insekten-Ausstellung im Rijksmuseum

Dieser stillen, andächtigen Revolution der Naturkunde seit dem 16. Jahrhundert folgt ab September nun eine neue Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum. Die Exposition im Philips-Flügel des Museums nimmt dabei eine dezidiert kunst- und kulturgeschichtliche Perspektive ein. Unter dem niederländischen Titel „Onderkruipsels“, englisch „Crawly Creatures“ und zu Deutsch etwa „Krabbel-“ oder „Kreuchgetier“, präsentiert sich die Schau als eine gleichsam historisch-insektenkundliche Wunderkammer der Frühen Neuzeit. Von Albrecht Dürers berühmtem „Hirschkäfer“ von 1505, über die verblüffend naturnahen, entomologischen Lebendabformungen des Wiener Hofgoldschmiedes Wenzel Jamitzer (1507/08-1585), hin zu den lebendig-toten Naturalienkabinetten des niederländisch-ostfriesischen Apothekers und Arzneihändlers Albert Seba (1665-1736) im Amsterdam des frühen 18. Jahrhunderts.

Präparate Reptilien Albert Seba Apotheker Amsterdam
Präparate aus der Sammlung des Amsterdamer Apothekers Albert Seba (1665-1736). Die in der Ausstellung „Onderkruipsels“ gezeigten Reptilien stammen aus Westafrika, Asien und Südamerika und wurden durch den Amsterdamer Apotheker in Jahren zwischen 1717 und etwa 1736 erworben. Bild: Museum für Naturkunde, Berlin/Johannes Kramer.

Exotikahandel in Amsterdam

Für den kleinteiligen, aber lukrativen Handel mit Arzneipflanzen, Vogelfedern, Singvögeln, Reptilien und ähnlichen Wunderobjekten mehr erweist sich Amsterdam geradezu als idealer Standort. — Auch dank der Amsterdamer Hauptkontore zweier mächtiger niederländischer Handelsgesellschaften: der Ost- und der Westindien-Compagnie, welche eigentlich auf Gewürz- und Zuckermonopole gerichtet sind; ab dem frühen 17. Jahrhundert jedoch auch einen schwunghaften Curiosa-Handel für luxusorientierte Haushaltungen, Kunstwerkstätten und Wunderkammern in ganz Europa befördern helfen. Amsterdam entwickelt sich zu einem schier unerschöpflichen Markt für exotische Studienmaterialien und Sammelobjekte aus der ganzen Welt — perfekter Zierrat für die Stillleben der zeitgenössischen Kunstproduktion und die symbolische Herrschaftspartizipation des Handelsbürgertums.

Die Amsterdamer Malerwerkstatt der Maria Sybilla Merian

1691 kommt in der Hafenmetropole auch die aus Frankfurt stammende Malerin und Naturforscherin Maria Sybilla Merian (1647-1717) an. Die Merianin lebt von ihrem Ehemann, einem Nürnberger Maler, getrennt und baut sich mit ihren Töchtern in Amsterdam schließlich eine florierende Malwerkstatt auf, welche auch für kunstpädagogische und verlegerische Geschäftsaktivitäten genutzt wird. Ihre Kontakte in taufgesinnte, frühpietistische Kreise und Emigrantenmilieus zwischen der Schweiz, den Niederlanden und dem Römisch-deutschen Reich eröffnen ihr beständig Zugang zu privaten Kabinetten und Sammlungen, Patrizierhäusern und herrschaftlichen Landsitzen, Gärten und Orangerien. Zu diesem Umfeld gehört etwa auch die mennonitische Kunstsammlerin Agnes Block oder der vorerwähnte Apotheker Albert Seba.

Die Insektenwelt Surinames

Über die surinamischen Verbindungen einer radikalpietistischen Kommune, desgleichen eines einflussreichen Gönners sowie ihres Schwiegersohnes, eines Überseekaufmanns, wagt sie 1699 schließlich die Überfahrt nach den Wunderkammern der Guianas. In enger logistischer Abhängigkeit von den Versklavungsstrukturen einer atlantischen Plantagenkolonie durchstreift sie schließlich mit ihrer jüngsten Tochter und einer großen Schar versklavter Träger die Urwälder Surinames; beständig auf der Suche nach den Geheimnissen der Raupen und der Schmetterlinge. Ihr nachfolgend in Amsterdam auf Niederländisch publiziertes und reich bebildertes Hauptwerk über die „Veranderingen der Surinaamschen Insecten“ wird sie schließlich weltberühmt machen. — Ein Aquarell, welches für ihre Studien der „Metamorphosis insectorum Surinamensium“ um 1705 entstand, ist auch in der Amsterdamer Ausstellung „Onderkruipsels“ zu sehen. Die kunsthistorische Insektenschau „Onderkruipsels“ eröffnet am 30. September 2022 und läuft sodann bis zum 15. Januar 2023.

Ökologische Dimensionen

Die Amsterdamer Sonderschau betont jedoch nicht allein die kunst- und kulturhistorischen Aspekte jener naturkundlichen Umbrüche in der Frühen Neuzeit, sondern auch die dezidiert ökologische Dimension der Insektenwelt bis in unsere Gegenwart. Hierfür bieten die Ausstellungsmacher ein umfassendes Begleitprogramm, welches unter anderem in Zusammenarbeit mit dem niederländischen Komitee der Weltnaturschutzunion ICUN entwickelt wurde.

Das indische Panzernashorn „Clara“

Parallel zur Exposition „Onderkruipsels“ startet zudem eine weitere Sonderschau mit kritischem Blick auf die Umwälzungen einer globalisierten europäischen Naturkunde. Im Blickpunkt dabei das berühmte indische Panzernashorn „Clara“. — 1741 verschleppt ein Directeur der niederländischen Ostindien-Compagnie das unglückselige Rhinozeros aus Bengalen nach Amsterdam — selbstredend zu kommerziellen Schauzwecken. „Clara“ stirbt schließlich völlig erschöpft nach einer mehrjährigen Europa-Tournee am 14. April 1758 in London.

Anzeige