
Nachstehender Text skizziert die historisch-politischen Voraussetzungen der Auswanderung von mutmaßlich rund 7.000 Mennoniten aus Kanada nach dem mexikanischen Bundesstaat Chihuahua im Jahre 1922. Sie bildet zugleich den geschichtlichen Ausgangspunkt für spätere mennonitische Migrationsbewegungen insbesondere nach Belize und Bolivien ab Ende der 1950er-Jahre.
Im Gefolge des Ersten Weltkrieges eskalieren in Kanada eine Reihe von innenpolitischen Konflikten, die spezifische Konzepte britisch-kanadischer Identität und Imperialität betreffen. Die historischen Ausgangslagen dieser Konflikte liegen zwar in älteren Anglisierungsdiskursen und -politiken der Dominionsregierung sowie provinzialer rechtskonservativer Eliten, gewinnen unter den Bedingungen des Krieges jedoch an Schärfe. Betroffen sind hiervon auf je unterschiedliche Weise ethno-religiös definierte Minderheiten im Westen Kanadas — insbesondere deren überwiegend nicht-englischsprachiges, selbstverwaltetes Konfessionsschulwesen. Neben franko-kanadischen Katholiken sind dies insbesondere Immigrantengruppen aus den multi-ethnischen Gesellschaften des russischen Zarenreichs sowie Österreich-Ungarns; unter ihnen vielfach katholische und orthodoxe Christen, aber auch dezidiert non-konformistische Gemeinschaften, etwa die Duchoborzen, eine pazifistische Sondergemeinschaft mit russisch-orthodoxen Wurzeln.
Mennoniten im Ersten Weltkrieg
Kanadas russländische Mennoniten, die gleichfalls im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aus dem Zarenreich nach Britisch-Amerika eingewandert sind, geraten dabei in besonderer Weise zur Zielscheibe lokaler Pressekampagnen sowie parteipolitischer und behördlicher Ränke; Folge ihres ausgeprägten ethno-religiösen und kollektivistischen Selbstverständnisses, ihrer christlich-pazifistischen Lebensideale ― und einer vor allem von Außen an sie herangetragenen Identifikation als „Germans“, insbesondere nach Ausbruch des Krieges mit dem deutschen Kaiserreich. Im Blickpunkt britisch-kanadischer Nationalisten, Politiker und Behördenvertreter dabei insbesondere der spezifische Sprachhaushalt konservativer mennonitischer Identität, zu welcher auch tradierte Formen des Schrift- beziehungsweise Hochdeutschen gehören.
Kanada im 19. Jahrhundert: Globale Empire-Perspektiven
― Diskursgeschichtlich führt der Konflikt, der 1922 mit der Auswanderung von schätzungsweise 7.000 konservativen Mennoniten nach Mexiko seinen Höhepunkt finden wird, jedoch viel weiter zurück, und zwar bis in die Frühphase der kanadischen Föderation Ende der 1860er-Jahre. In dieser Zeit werden die riesigen Wald- und Präriegebiete im Westen und Norden des heutigen Kanada zunächst von einer kolonialen Handelsgesellschaft mit Wurzeln im 17. Jahrhundert, der „Hudson’s Bay Company (HBC)“, an die Dominionsregierung übertragen. Peripher, dünn besiedelt und für den europäisch-amerikanischen Siedlerkapitalismus noch unerschlossen, befürchtet die kanadische Regierung eine schleichende Inbesitznahme der Gebiete durch US-amerikanische Squatter und Goldsucher. Jene als Nordwestterritorien bezeichneten Areale besitzen jedoch auch in einer globalen Empire-Perspektive geopolitische Relevanz: insbesondere als Kernelement einer bi-ozeanischen, längerhin auch eisenbahngestützten Landverbindung zwischen dem Nordatlantikraum und der vormaligen Pazifikkolonie des British Columbia. — Das pazifische Settlement ist 1867 ebenfalls der kanadischen Konföderation angeschlossen worden; zugleich haben die Vereinigten Staaten von Russland das Alaska-Territorium erworben, was die geopolitische Situation im Nordpazifik noch einmal verschärft.
Eine kontinentale Föderation
Agrar- und Bergbausiedlungen, Forts und Forstbetriebe sollen die geplanten Eisenbahnstrecken allmählich säumen und sich in westlicher Richtung nach den Küstenkolonien British Columbias erstrecken; eine kontinentale Föderation erwüchse somit in naher Zukunft — „a mari usque ad mare“ – zunächst mit der 1870 gegründeten Provinz Manitoba als Kolonisationskern und Vorposten im Grenzgebiet zu den Vereinigten Staaten; und schließlich den Hafenplätzen um die Salische See am Pazifik als künftigen Toren gen Arktis, Asien und Australien. Solcherweise entstünde auf der Nordhalbkugel also ein weiterer Verkehrs- und Kommunikationsstrang des Empire.
Bi-ozeanische Kommunikationsverbindungen
Bereits bei der Übernahme der Hudson’s Bay Company 1863 durch ein Londoner Investmentvehikel, der „International Financial Society Limited“, ist ausdrücklich von einer britisch-kontrollierten, bi-ozeanischen Kommunikationsverbindung, telegrafischer und postalischer Art, die Rede; ein zweiter kontinentaler Verbindungsweg des Britischen Weltreichs also, neben dem 1869 eröffneten, geopolitisch jedoch weitaus komplexer eingebundenen Suez-Kanal ― im Verständnis britischer Imperialisten die neue maritime „Lebensader“ des Empires nach Indien.
Ontario als strategischer Referenzpunkt
In Kanada verbinden sich die Imperialdiskurse der Londoner Metropole indes früh mit dezidiert lokalpolitischen Interessen. Dieser Prozess vollzieht sich vor allem innerhalb der Kolonialelite Ontarios, von der nativistischen Rechten bis in den liberalkonservativen Mainstream. Als Heimstatt der anti-revolutionären Empire-Loyalisten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, ingleichen als bevorzugtes Ziel einer großen Einwanderungswelle von den Britischen Inseln während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist Ontario von Beginn an der zentrale strategische Referenzpunkt jeglicher Expansionsbewegungen in der Region; gleichsam ihr royalistischer und anglozentrischer Identitätsnukleus.
Die Ideologie des „Ontario-Annexionismus“
Als eine Art „Ontario-Annexionismus“ soll die Region nördlich der Großen Seen die Einfügung des kanadischen Westens in das Britische Empire nicht nur wirtschaftlich-demografisch, sondern auch identitär absichern. Frühe Exponenten dieser Ideologie eines „Greater Ontario“ sammeln sich bereits 1868 in der nativistischen Vereinigung „Canada Frist“, darunter der Torontoer Anwalt George Taylor Denison, III. (1839-1925), aus loyalistischer Familie stammend späterhin langjähriger oberster Richter des städtischen Polizeigerichts.
Manitoba: Die Red-River-Kolonie
Außerhalb Ontarios indes, jenseits der Frontier, verbleiben jene expansionistischen Perspektiven auf Kanadas Weiten zunächst jedoch bloße — Kontrollfiktionen; imaginäre Expansionsräume inmitten indigener Jagd- und Handelsgebiete, mit den Verkehrszentren um die Großen Seen kettenartig verbunden lediglich durch kleinere Militärposten. Allenfalls die bereits 1811 etablierte Red-River-Kolonie im Bereich des heutigen Winnipeg, Manitoba, hat sich als erster Siedlungskern gegenüber einem annexionistischen Ausgreifen der Vereinigten Staaten dauerhaft positionieren können. Hier treffen im Sommer 1863 Experten der Hudson’s Bay Company zu einer Inspektion der Gebiete ein. Unter der Leitung eines regierungsnahen britischen Eisenbahnmanagers, Edward Watkin (1819-1901), fungieren sie einmal mehr als Vorboten des nordamerikanischen Siedlerkolonialismus. Dieser verdrängt und dezimiert vor allem nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges 1865 immer schneller die Lebensgrundlage indigener Kulturareale, den Bison; auch und gerade infolge transkontinentaler Eisenbahnverbindungen, deren erste bi-ozeanische Streckenführung im Mai 1869 symbolträchtig abgeschlossen werden kann.
Indigene Stammesgebiete westlich des Ontario
Die Auswirkungen dieser siedlerkapitalistischen Expansions- und Durchdringungsprozesse sind in jenen Jahren auch in den Stammesgebieten der Indigenen westlich des Ontario zu spüren; Lebensraum etwa der Cree, der Anishinabe oder der Métis, einem euroindigenen, halb-nomadischen Ethnikum; viele von ihnen sind katholischer Konfession und gebrauchen eine französisch-basierte Verkehrssprache, das „Métchif“. Insbesonders die Nachfahren französischer Jäger und ihrer indigenen Frauen, die sogenannten „Métis francophones“, halten seit jeher lose Bande mit dem franko-katholischen Québec und seinen religiösen Bildungseinrichtungen, aber auch mit jesuitischen „Indianer-Missionaren“ auf US-Territorium.
Eine Britische Nation in Nordamerika
Dem imperialen Dispositiv einer Britischen Nation in Nordamerika, einer künftigen Kornkammer des Empire, kontinental verknüpft, von „Meer zu Meer“, stellen sich in den 1870er-Jahren in Westkanada also drei grundsätzliche Probleme: die enorme Weite der Territorien in einem anspruchsvollen geopolitischen Wettbewerb mit den expansiven Vereinigten Staaten um Raumkontrolle — und Siedler; die Anwesenheit indigener, nicht-assimilierter Bevölkerungsgruppen in den Grenzregionen selbst, darunter die „Métis francophones“; und schließlich die Notwendigkeit für eine Besiedlung und effektive Kontrolle jener Gebiete auf eine möglicherweise beträchtliche Zahl von nicht-englischsprachigen, teils auch nicht-protestantischen Kolonisten zurückgreifen zu müssen. — Alle drei Faktoren müssen unweigerlich mit den tradierten kolonialrassistischen und konfessionalistischen Hegemonial- und Identitätsdiskursen des britischen Dominions kollidieren, so wird sich rasch zeigen.
Verträge und Reservate
Im Süden des heutigen Manitoba gelingt es britischen Militärs und Kronbeamten, von den örtlichen Stämmen der Cree und Anishinabe zunächst riesige Landstücke zu erwerben; abgesichert durch eine Reihe von Verträgen, den sogenannten „Post-Confederation Treaties“, welche bereits 1877 auch Gebiete im heutigen Saskatchewan und Alberta umfassen werden. Die vielfach von Hunger und Krankheit bedrängten Autochthonen Westkanadas erhalten im Gegenzug Geld, Sachleistungen und Lebensmittellieferungen, insbesondere aber Jagdrechte und Reservate unter dem formellen Schutz der britischen Krone. Vermöge eines 1876 erlassenen Gesetzes, dem sogenannten „Indian Act“, erhält die Dominionsregierung allmählich Zugriff auf das religiöse und soziale Leben in den Reservaten; jedoch erst ab Mitte der 1890er-Jahre auch im Wege der berüchtigten kanadischen Internatsschulen unter katholischer sowie anglo-protestantischer, insbesondere anglikanischer Ägide.
Der Aufstand der Métis und ein protestantischer Märtyrer
Die Einverleibung der indigenen Siedlungsgebiete in die Föderation erfolgt jedoch nicht gänzlich ohne Gewalt. Bereits 1869 kommt es unter anderem im Gebiet des heutigen Süd-Manitoba zu einem Aufstand der Métis gegen die Dominionsregierung; verursacht wesentlich durch noch ungeklärte Landtitel sowie aggressiv vordringende Squatter und Kolonisten aus Ontario. Die bewaffneten Auseinandersetzungen eskalieren vollends, als im März 1870 der Ulster-schottische Landvermesser Thomas Scott durch Métis hingerichtet wird, was die ohnedies ressentimentgeladene Stimmung gegen die Indigenen noch weiter steigert — und Scott geradewegs zum protestantischen Märtyrer stilisiert; insbesondere im Kreise seiner Brüder und Kampfgefährten. — Eine für die Geschichte Kanada nicht zu unterschätzende religio-politische Vereinigung betritt hier öffentlichkeitswirksam die nationale Bühne der Tagespolitik: der Oranier-Orden, eine ursprünglich in Irlands Ulster-Provinz beheimatete Fraternität britischer Royalisten und Nationalisten. Auch Scott ist im heutigen Nordirland gebürtig und als ehemaliges Mitglied der „Orangemen“ für eine posthume Märtyrerrolle geradezu prädestiniert.
Der Oranier-Orden in Kanada
Mit seiner ausgeprägten antikatholischen Grundhaltung und seinem logenartigen Solidarsystem ist der Oranier-Orden vor allem unter Ulster-schottischen Einwanderern und ihren Nachkommen überaus populär. Innerhalb der anglo-kanadischen Rechten, zwischen ihrem dezidiert kanadischen-nationalistischen und ihrem stärker metropolitan-orientierten, imperialistischen Flügel, wird sich die Bruderschaft zu einem der wichtigsten Organisationspropagandisten kanadischer „Britishness“ entwickeln; ihre politisch-institutionelle Expansion gleichsam diskursiv absichern, in Ontario ebenso, wie in Kanadas Neuem Westen. Eine Funktion, welche der Oranier-Orden noch bis weit nach dem Ersten Weltkrieg wird fortsetzen können und für welche er nicht notwendigerweise auf rechtspopulistische Parteigründungen angewiesen ist. Insbesondere die aufstrebende Industriemetropole Toronto, das „Belfast Kanadas“, gilt seinerzeit als Hochburg der Gemeinschaft. Hier sind auch die meisten der kanadischen Oranier-Logen ansässig. Bereits 1873 kann die Bruderschaft während einer Massenversammlung Vertreter von 74 Logen auf den Straßen von Toronto mobilisieren.
Oranier-Loyalisten: Nationalismus und Antikatholizismus
Von Toronto, dem politischen und kulturellen Zentrum Anglo-Kanadas, drohen Scotts radikale Ordensbrüder in der einflussreichen Tageszeitung „The Globe“ zu Toronto folgerichtigerweise sodann auch mit baldiger Befreiung des damals noch als „Red River Territory“ bezeichneten Gebietes von aller „Papisterei“. Ein Menetekel auf die Zukunft. Denn bald schlägt der militante Antikatholizismus der Oranier-Loyalisten auch in offene Gewalt um; etwa im Spätsommer 1875 bei oranischen Übergriffen auf katholische Prozessionen in Toronto. Die Straßenunruhen werden vor allem der oranischen Jugendorganisation „Young Britons“ angelastet und öffentlich überwiegend verurteilt. Dabei nehmen sich die Ausschreitungen in „Kanadas Belfast“ noch reichlich harmlos aus, vergleicht man sie mit den schweren Straßenschlachten im New York der Jahre 1870/71: Während der dortigen Oranier-Paraden am 12. Juli, dem alljährlichen „Orangemen’s Day“, kommen über 60 Menschen ums Leben ― Oranier, irische Katholiken und New Yorker Polizisten. Es ist dies eine Phase verstärkter Militanz in den Auseinandersetzungen zwischen Ulster-Protestanten und irischen Katholiken in Nordamerika im Gefolge des innerstädtischen Nativismus, des Amerikanischen Bürgerkrieges und der Sezessionsbewegungen in Irland.
Orangemen als Grenzwächter des Imperiums
In jenen Jahren kommt es immer wieder auch zu Angriffen irisch-republikanischer Freischärler, den sogenannten „Fenians“, auf britisch-kanadische Grenzposten; 1870 und 1871 etwa auch in Québec und Manitoba. Es sind insbesondere von Ulster-Protestanten dominierte Milizen, vielfach hinwiederum Orangemen, welche die von den Vereinigten Staaten aus operierenden Verbänden zurückschlagen. Aus der Perspektive des imperialbritischen und kolonialen Establishments mag man dem militanten Protestantismus der „Oranier-Loyalisten“, ihrem scharf antikatholischen „Sektierertum“, skeptisch bis ablehnend gegenüber stehen, ihn publizistisch verurteilen und öffentlich ächten ― als Grenzmilizen, als loyalistscher Wählerblock und informeller Ordnungsfaktor in den neuen Siedlungsterritorien des Westens werden sie gleichwohl geschätzt. Nicht wenigen Orangemen gelingt in diesem Gefüge der Aufstieg in höchste politische Ämter.
„Canada First“: Anglo-kanadischer Nativismus im 19. Jahrhundert
Jenseits des oranischen „Sektiererwesens“, seiner landsmannschaftlichen Provinzialität und Militanz sucht die vorerwähnte Assoziation „Canada First“ die politische Instituionalisierung der „Britishness“; ist bemüht, bereits 1870 die aufgebrachte Stimmung im Lande zukunftsträchtig mit einer dezidiert rechtspopulistischen Einwanderungsagenda zu verknüpfen — exklusiv-britisch, allangelsächsisch-protestantisch möge das „Größere Ontario“ sein. In diesen Kreisen vermengt sich kontinentale Konkurrenz zu den Yankee-Nachbarn im Süden mit dem hohen Ton eines erklärtermaßen anglo-kanadischen Nationalismus und Nativismus; rassistisch aufgeladen etwa durch den Hobbyanthropologen und Advokaten Robert Grant Haliburton (1831-1901) oder dem britischen Antisemiten Goldwin Smith (1823-1910). Einfluss auf die breite Politik gelingt ihnen jedoch schließlich kaum, wie die non-konfessionalistische kanadische Einwanderungspolitik der nächsten 30 Jahre zeigen wird. Gleichwohl ergänzt die Vereinigung das rechte Spektrum zeitweilig um eine dezidiert kanadisch-nativistische Perspektive, jenseits des engeren Ulster-schottischen Konfessionalismus der Oranier.
Die Franko-Kanadier und der neue kanadische Westen
Ungeachtet des aggressiven Tenors in Ontarios Rechtspresse und an den Rändern der lokalen Politik agiert die Kolonialverwaltung strategisch geschickt. Behutsam bewegt sie sich entlang komplizierter innenpolitischer Allianzbildungen zwischen Toronto, Ottawa und Montréal. Zwar muss sie die „Rébellion de la rivière Rouge“ in der neuen Siedlerprovinz Manitoba schließlich gewaltsam niedergeschlagen; doch bereits 1870 gewährt das Dominion dem Französischen ko-offiziellen Amtssprachenstatus in Manitoba und sichert den überwiegend ja katholischen Métis überdies Landtitel und konfessionelle Schulautonomie zu. — Ohne die Métis, ohne die katholische Kirche und franko-kanadische Binnensiedler, gar erklärtermaßen gegen dieselben, wird eine Kolonialisierung des kanadischen Westens nicht gelingen können, ist man in Ottawa und London überzeugt.
Einflussmächtiger Fürsprecher eines Bündnisses mit den Franko-Kanadiern wird bis zu seinem Tod nicht zuletzt ein „Orangeman“, wiewohl ein Vertreter des gemäßigten imperialen Flügels der Oranier und ein überaus geschickter Taktierer: Kanadas erster Premierminister John A. Macdonald (1815-1891), gebürtiger Schotte, späterhin frommer Anglikaner, Vater des ersten kanadisch-kontinentalen Eisenbahnprojektes, der „Canadian Pacific Railway“, und seit 1867 in zweiter Ehe verheiratet mit der Tochter eines britisch-jamaikanischen Plantagenbesitzers.
Amtssprachen und Schulautonomie
Doch das von Macdonald beförderte Zweckbündnis währt nur für wenige Jahre: bereits um 1890 haben sich die Bevölkerungsverhältnisse in den neuen Nordwestprovinzen, allem voran in Manitoba, deutlich verändert. — Die bisherige siedlerkolonialistische Allianz aus Anglo-Protestanten und Québécois ist nun obsolet geworden; englischsprachige Protestanten bilden die Mehrheit in der Frontierregion und schaffen das Französische als parallele Amtssprache nach 20 Jahren faktisch wieder ab. Zugleich wird ein System nunmehr staatlich finanzierter, englischsprachiger Schulen etabliert, hingegen die bisherige öffentliche Unterstützung frankofoner Schulen, der sogenannten „Écoles séparées“, gestrichen. Zwar verbleibt die Möglichkeit, konfessionelle Privatschulen zu unterhalten, deren längerfristige Finanzierung bleibt für die meisten katholischen Gemeinschaften jedoch unsicher.
Der oranische Politiker Dalton McCarthy
Eine politische Führungsposition übernimmt in dieser Phase zeitweilig der irisch-protestantische Anwalt Dalton McCarthy (1836-1898), gleichfalls ein eher gemäßigter Oranier, bereits gebürtig in Kanada und ursprünglich ein Protégé Macdonalds‘. McCarthy tritt zunächst vor allem in den Auseinandersetzungen um mögliche Entschädigungszahlungen an den Jesuitenorden in Québec hervor, welcher dort 1774 enteignet worden war. Während der 1880er-Jahre etabliert er sich schließlich als entschiedener Verfechter einer allumfassenden, institutionellen Anglisierung Westkanadas, insbesondere Manitobas. McCarthy steht dabei auch unter dem Eindruck der Niederschlagung eines weiteren indigenen Aufstandes 1885, der sogenannten „Nordwest-Rebellion“ in Saskatchewan, neuerlich unter führender Beteiligung der Métis und mit einer gerade auch kulturautonomistischen Agenda. Die Revolte endet mit der Hinrichtung ihres Anführers Louis Riel wegen Hochverrats gegen die Zentralregierung im Winter 1885.
Hochimperialismus und Siederkolonialismus
McCarthy hält auch enge Fühlung mit der Londoner Metropole, fungiert er doch lange Jahre auch als führender Vertreter der kanadischen Sektion der „Imperial Federation League“, einer 1884 gegründeten Lobbyorganisation des Hochimperialismus und des britischen Siederkolonialismus. Die „Imperial Federation League“ ist zeitweilig um die Etablierung eines dominienweiten Reichsparlaments in London bemüht. McCarthys radikale Ansichten zur Anglisierung im Westen und seine Verbindungen zu militanten anti-katholischen Parteiungen und Organisationen in Kanada und den Vereinigten Staaten isolieren ihn jedoch zunehmend.
Zwischen Ultraroyalismus und globaler Imperialität
Macdonald und McCarthy eröffnen zwar gewissermaßen den langen Reigen prominenter kanadischer Politiker aus dem Oranier-Orden, respektive seines weiteren Resonanzraumes; jedoch markieren sie zugleich auch die imperialpolitischen Grenzen eines allzu konfessionalistisch-rassistisch aufgeladenen Ultraroyalismus, der insbesondere McCarthy schließlich in einen Gegensatz mit dem konservativen Establishment Ottawas und Londons bringen wird. In den 1890er-Jahren ringen durchaus zwei disparate Strömungen innerhalb des nationalprotestantischen Parteienspektrums und des Oranier-Ordens. Den extremistischen Flügel der Oranier-Loyalisten wird es ab den 1920er-Jahren gar in lokale Nativisten-Bündnisse mit kanadischen Ablegern des Ku-Klux-Klan führen, während der imperiale Flügel der Fraternitatis weiterhin engere Fühlung mit der Metropole sucht. — Und diese will zwar durchaus ein „Britisches Amerika“, nicht jedoch ein ausschließlich anglo-protestantisches und zumindest mit Blick auf Québec auch kein unilingual englischsprachiges. In der metropolitanen Perspektive des Britischen Imperialismus werden mit dem nahenden Ende der ersten Globalisierungsphase über Kontinente und Ozeane hinweg nicht konfessionspolitische, sondern vor allem militärische und geoökonomische Ziele definiert ― und für Letztere bedarf es insbesondere Siedler und Arbeitskräfte, Hunderttausende.
Von Russland nach Kanada: die mennonitische Einwanderung ab 1872
In dieser von Konfessionalismus, Nationalismus und imperialen Utiliteralismus geprägten Atmosphäre nehmen die ab 1872 nach Manitoba einwandernden Mennoniten zunächst eine überaus privilegierte Position ein; und zwar durchaus vergleichbar mit der Stellung katholischer Franko-Kanadier im Westen. Die zuvor im Zarenreich, im Gebiet der heutigen Ukraine, lebenden Mennoniten werden Anfang der 1870er-Jahre über Auswanderungsagenten und britische Konsularbeamte für eine Emigration nach Kanada angeworben. Befördert wird der komplizierte und diplomatisch durchaus heikle Anwerbe-, Verhandlungs- und Ansiedlungsprozess zeitweilig auch durch den damaligen kanadischen Minister für Landwirtschaft und Einwanderung, John Henry Pope (1819-1889), späterhin auch Minister für das Eisenbahnwesen. Pope fungiert schließlich auch als regierungsamtlicher Signatar des späterhin so umkämpften mennonitischen „Privilegiums“ gemäß kanadischer Kabinettsorder vom 13. August 1873. Dieses gewährt den christlich-protestantischen Pazifisten insbesondere eine Freistellung von Militärdiensten und jeglicher Eidesleistung bei Behörden und vor Gericht, Gottesdienstfreiheit sowie eine Autonomie des mennonitischen Schulwesens; in den künftigen Siedlungen der Mennoniten vor allem ein dörfliches Primarschulsystem.
Pullfaktoren
Das offizielle Privilegium bildet dabei einen der entscheidenden Pullfaktoren für die mennonitischen Immigranten, die im Zarenreich eine verschärfte Militärdienstpflicht sowie eine Russifizierung ihres tradierten Konfessionsschulsystems mit plautdietsch-hochdeutscher Unterrichtssprache befürchten müssen. In direkter Konkurrenz mit amerikanischen Einwanderungscommissären erweisen sich die britisch-kanadischen Behörden überaus flexibel und kompromissbereit, bieten kostenfreie Landstrecken und Vergünstigungen. Imperiale Zweckmäßigkeit treibt sie dabei, denn als erfahrene Landwirte sind die Täufernachfahren in Manitoba hochwillkommen.
Blocksiedlung: die Mennoniten in Manitoba
Vor diesem Hintergrund wird den russländischen Mennoniten auch das Recht zur gemeinschaftlichen Siedlung, zur sogenannten „Blocksiedlung“, zugestanden; während auf eine rasche Anglisierung gerichtete Kreise jenen „Block Settlements“ seinerzeit bereits skeptisch gegenüberstehen. Die oben erwähnten anglozentrischen Diskurskräfte in Politik und Bürokratie präferieren hingegen eine gezielte Streusiedlung. Allein diese vermöge es längerhin, die erstrebte sprachlich-kulturelle Amalgamierung des ruralen kanadischen Westens für das Empire sicherzustellen, respektive diese zu beschleunigen. Während der frühen 1870er-Jahre wird aus pragmatischen Gründen hieraus jedoch noch kein Politikum. In der Folge entstehen ab 1871 somit also zwei größere Siedlungsblöcke als künftige religio-kulturelle und wirtschaftliche Zentren der Mennoniten in Manitoba, die sogenannten Ost- und Westreserven südlich von Winnipeg. Die Aussicht auf billiges, wiewohl fruchtbares Land sowie die erwähnten Ansiedlungsprivilegien mit der Möglichkeit, ihre althergebrachte kollektivistische Wirtschaftsweise in eigenen, teil-autonomen Siedlungen fortzuführen, lockt somit vor allem konservative russländischen Mennoniten nach Kanada. Bis 1880 wird Manitoba rund 7.000 mennonitische Einwanderer aus dem Zarenreich aufnehmen, viele von ihnen nur geringfügig kapitalisiert und von den traditionellen Sozialsicherungssystemen der mennonitischen Gemeinschaftssiedlungen auch in der kanadischen Prärie vollauf abhängig.
Das mennonitische Dorfschulwesen
Mit Blick auf die Autonomie des mennonitischen Schulwesens, in den Siedlungen der Mennoniten also vor allem als dörfliches Primarschulsystem, steht selbstredend die Wahl der Unterrichtssprache im Mittelpunkt. Innerhalb des mennonitischen Sprachhaushaltes bedeutet dies: Der Unterricht erfolgt realiter in einer Diglossie aus formalisiertem Hochdeutsch als Schrift-, Lese- und Rezitationssprache, und Plautdietsch als ostniederdeutsch-basierte Sprache der unmittelbaren Mitteilung, der Auslegung und Erklärung. Die sprachliche und ethno-religiöse Identität dieser obskur anmutenden „Prärie-Mennoniten“, mit welcher Obrigkeit und Öffentlichkeit in Kanada ab den 1870er-Jahren erstmalig konfrontiert werden, ist das Ergebnis mehrerer sich überlagernder sozialer und soziolinguistischer Prozesse; vollzogen insbesondere während des 16. bis 18. Jahrhunderts über verschiedene flucht- und migrationsgeschichtliche Zwischenstationen in den Niederlanden, Polen, Westpreußen und Russland.
Sprachliche Identitätsprozesse in der Geschichte der Mennoniten
Sie lassen sich folgendermaßen skizzieren: Zunächst kommt es zu einer sprachlichen Binnenamalgamierung innerhalb einer zwangsläufig hochmobilen Fluchtgemeinschaft bestehend aus mehrheitlich niederländischen-flämischen-friesischen sowie einem kleinen, aber signifikanten Anteil süddeutsch-schweizerischer Taufgesinnter und schließlich auch vereinzelter westpreußischer Konvertiten; im Weichseldelta vollzieht sich schließlich eine partielle Übernahme der ostniederdeutschen Umgebungsdialekte mennonitischer Siedlungen; sodann eine Akkulturation der dortigen Mennonitengemeinden an eine lutherisch-hochddeutsche Schriftsprachlichkeit; am Schwarzen Meer, wohin mennonitische Bauern und Handwerker ab 1789 gelangen, schließt sich zuletzt die Entwicklung einer eigenständigen, mehrsprachigen Bildungskultur der Mennoniten an, die im Bereich des höheren, sogenannten „Zentralschulwesens“ überwiegend auf Plautdietsch-Hochdeutsch und Russisch erfolgt.
Plautdietsch, Hochdeutsch, Landessprache
Diese mennonitische Tri- beziehungsweise Polyglossie markiert nicht allein die kulturelle und wirtschaftliche Adaptionsfähigkeit der „wehrlosen Christen“ zwischen Küste, Delta, Steppe und Prärie, sondern auch die einzelnen Sphären ihrer spezifischen ethno-konfessionellen Identität: bestehend aus plautdietscher Familiarität, hochdeutscher Traditionalität und — insbesondere bezogen auf das imperiale Wirtschaftsleben – landessprachlicher Universalität. Historisch wird den Mennoniten zeitweilig also eine dreifache Einfügung in imperiale oder post-imperiale Großwirtschaftsräume gelingen: dem Zarenreich, dem British Empire und der post-imperialen Hispanität Lateinamerikas. Wo immer diese sprachlichen Sphären aufgebrochen werden sollen oder müssen, besteht, wie sich bereits in Russland zeigte, ein erhebliches, innergemeindliches Konfliktpotenzial.
Kolonie-Mennoniten in Manitoba und Saskatchewan
In den abgelegenen, imperialwirtschaftlich noch wenig erschlossenen, allenfalls von Telegrafenverbindungen zusammengehaltenen Präriezonen indes spielt die Frage, in welcher Sprache mittellose Einwanderer ihre Kinder unterrichten und katechisieren, zunächst keinerlei Rolle. Für die britisch-kanadische Kolonialbürokratie gelten die Mennoniten vor allem als fromme, friedsame Agrarier; ein geradezu viktorianisch-anmutendes Sinnbild agrarökonomischer Effizienz und moralischer Integrität. Biblizistisch-erzväterlich mögen sie also britische Scholle, einstiges „Indianerland“, beackern und sich alsbald in Kanadas rasch expandierende Agrarexportwirtschaft fügen. Und dies gelingt jenen „Prärie-“ und „Kolonie-Mennoniten“ in Manitobas Ost- und Westreserve auch relativ erfolgreich, insbesondere als Getreidebauern und Milchviehwirte können sie sich in Nordamerika etablieren. Bereits in den 1890er-Jahren expandieren mennonitische Gemeinschaften weiter nach Westen, insbesondere nach Saskatchewan, welches nach der oben erwähnten Niederschlagung der Nordwest-Rebellion 1885 günstig zu erwerbende Agrarflächen bereithält; doch verweisen diese Binnenmigrationsprozesse auf ein Weiteres: es zeigen sich erste Risse im gemeinschaftlichen Gefüge der frommen Farmerpatriarchen.
Einfügung in den kanadischen Siedlerkapitalismus
Ursächlich hierfür sind nicht allein das rasche Bevölkerungswachstum in den Kolonien und der damit einhergehende Mangel an landwirtschaftlichen Nutzflächen; vielmehr bedingt der partielle wirtschaftliche Erfolg der Immigranten auch Veränderungen in der Stratifikation der Mennoniten-Gemeinschaft und in der Folge auch unterschiedliche Akkulturationsmuster bei der Einfügung in den kanadischen Siedlerkapitalismus: von der Übernahme weltlicher Moden oder neuer, anglo-protestantisch vermittelter Frömmigkeitsformen, bis hin zu einer stärker marktkapitalistischen Orientierung einzelner Individuen oder Familienverbände; etwa durch private Landkäufe oder Investitionen außerhalb des engeren Koloniegefüges; eine Entwicklung, welche die dynamische, wirtschaftsliberale Struktur des nordamerikanischen Siedlerkapitalismus überaus begünstigt.
Das Ende mennonitischer Selbstverwaltung in Manitoba
Diese Prozesse der Anpassung und Expansion verknüpfen sich alsbald mit dezidiert schul- und bildungspolitischen Fragen, die in den 1880er-Jahren erstmals in die mennonitischen Siedlungen drängen. Einmal mehr ist es die kanadische Regierung, welche diese Entwicklung begünstigt, gleichsam verwaltungstechnisch. Denn während Manitobas Mennoniten anfänglich noch partielle Selbstverwaltung nach dem Vorbild des preußisch-russländischen Dorfschulzenwesens ausüben können, wird diese behördlicherseits bereits ab 1880 beschränkt; was insbesondere zu einer Schwächung traditionalistisch eingestellter Gemeindevorsteher führt, den Schulzen und Oberschulzen, Verbündeten der geistlichen Leiterschaft bei der Aufrechterhaltung der strengen Gemeindezucht. — Das soziokulturelle Kräfteverhältnis verändert sich in den traditionell zu ritueller Absonderung neigenden Siedlungen nun allmählich zuungunsten der Konservativen.
Regierungsschulen in den mennonitischen Kolonien Kanadas
Die Gebietsreformen der Dominionsregierung betreffen schließlich auch das mennonitische Schulwesen in den Siedlungen. Gezielt versuchen die britisch-kanadischen Behörden dort sogenannte „Regierungsschulen“ mit englischer Unterrichtssprache zu etablieren, was ab 1890 im Rahmen der vorerwähnten Reformen im öffentlichen Schulwesen Manitobas teils auch gelingt. Auf den wachsenden Einfluss des Dominions in Verwaltung und Schule reagiert der konservative Gemeindeflügel der Mennoniten nun zunehmend beunruhigt. Auf der Westreserve wird er etwa auch durch die sogenannten „Altkolonier“ repräsentiert, deren gemeindliche Selbstbezeichnung bereits implizit auf die engeren Traditionsbestände des in Russland entstandenen Kolonie-Mennonitentums verweist. Die Traditionalisten bevorzugen weiterhin ein monolinguales, deutschsprachiges Konfessionsschulwesen mit althergebrachten täuferischen Lehrgegenständen. Dieses Ansinnen sehen die Traditionalisten durch das Privilegium von 1873 auch staatlicherseits unmittelbar geschützt. Eine Fehleinschätzung, wie sich zeigen wird.
Mennonitische Akkulturationsprozesse
Andere gemeindliche Strömungen hingegen blicken auf den wachsenden Einfluss der Dominionsregierung positiver, allem voran die Fraktion der „Bergthaler“, zu welchen auch eine wachsende Schar prosperierender Geschäftsleute und Unternehmer gehört; sie neigen in Alltag, Beruf, aber auch zunehmend in der persönlichen Frömmigkeit partiell der anglo-protestantischen Mehrheitskultur zu. Und gerade sie müssen in einer Erweiterung des englischsprachigen Schulunterrichts eine Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit erblicken — denn die Absatzmärkte der Mennoniten-Siedlungen sind alsbald nicht mehr nur das schnell wachsende Winnipeg. Bereits 1889 wird infolgedessen in Manitoba ein Lehrerseminar, die „Mennonitische Bildungsanstalt“ gegründet, welche den künftigen Bedarf an mennonitischen Lehrkräften für die bilingualen „Weltschulen“, wie der traditionalistische Gemeindeflügel der Mennoniten diese schilt, sicherzustellen.
Abwanderung konservativer Mennoniten nach Westen
Die Traditionalisten sehen die religiös motivierte Absonderung der „wehrlosen Christen“ folglich unmittelbar bedroht; an günstigem Land mangelt es in den Siedlungen ohnedies beständig, weshalb ein Teil der konservativeren Mennoniten somit schon in den 1890er-Jahren Manitoba verlässt, hin nach den neuen, abgelegeneren Agrarzonen Saskatchewans. Dort entstehen schließlich also Kanadas erste russlandmennonitischen „Tochterkolonien“; 1895 etwa die Altkolonier-Siedlungen von Hague und Osler, nördlich von Saskatoon.
Osteuropäische Einwanderung in die kanadische Prärie
Der viel gerühmte kanadische Weizengürtel breitet sich immer aus. Dabei sind gerade die 1890er Blütejahre einer dezidiert nicht-britischen Einwanderung nach Kanada, insbesondere unter dem Ministerium Sifton zwischen 1896 und 1905. Zeitweilig besteht ein Großteil der Zuwanderer und Kolonisten auf der Prärie aus ukrainischen, ruthenischen, polnischen, jüdischen und deutschsprachigen Immigranten; allesamt ehemalige Untertanen des österreichisch-ungarischen Kaisertums oder des Zarenreiches aus Galizien, Wolhynien oder dem Schwarzmeergebiet. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges werden sich allein 170.000 Ukrainer aus Österreich-Ungarn im Westen Kanadas angesiedelt haben, ein großer Teil von ihnen in Saskatchewan.
Koloniale Abwertungsdiskurse und Hierarchisierungen
Jene osteuropäischen Einwanderergruppen der 1890er-Jahre gelten den Imperial- und Kolonialbehörden zwar als sozial rückständig, religiös konservativ, manche mitunter, wie die Gütergemeinschaft praktizierenden Duchoborzen oder Hutterer, in ihren religiösen Anschauungen geradewegs skurril, werden in einer imperialen Entwicklungsperspektive aber dennoch diffus als assimilationsfähig betrachtet; ohnedies bleiben sie für das Kolonisationswerk im Westen Kanadas unabdingbar, aller rassistischen, klassistischen oder konfessionalistischen Hierarchisierungen zum Trotz.
Verteidigung der „Britishness“
Medial und politisch indes wird in Teilen der kanadischen Presse der Eindruck einer Masseneinwanderung konstruiert, welche neuerlich eine bewusste Verteidigung der „Britishness“ in den neuen Westprovinzen erfordert; demografisch ebenso wie siedlungs- und schulpolitisch. Für die anglozentrischen Diskurskräfte des Dominions bleibt die Frage nach einer sprachlich-kulturellen Amalgamierung des kanadischen Westens für das Empire hochaktuell; sie erweitert sich nun gar, stärker denn je, um rassistische Elemente; eine Entwicklung, die sich bereits in den Québécois-Diskursen der Vereinigung „Canada First“ nachzeichnen lässt.
Samuel Hughes: Rechtsnationale Siedlungspläne für Kanadas Westen
Das politische Klima ändert sich. Die administrativen Einflussnahmen des Dominions in den Agrarsiedlungen des Westens, das faktische Ende mennonitischer Selbstverwaltung oder der franko-kanadischen Schulautonomie in Manitoba und den Nordwestterritorien (1890/1892), spiegeln dies bereits. Ungleich schärfer und perfider argumentieren indes Vertreter der Rechtsnationalen, hierin partiell an den wilhelminischen „Ostmarkenverein“ gemahnend: So fordert etwa 1906 der spätere kanadische Kriegsminister Samuel Hughes (1853-1921), seinerzeit noch Abgeordneter für einen Wahlkreis in Ontario, Agrarland gezielt an britische Veteranen aus dem Burenkrieg zu vergeben. Staatlich unterstützt, in Streusiedlung und eigenen Townships angesetzt, sollen sie punktuell zu Bollwerken der „Britishness“ emporwachsen und zugleich die kanadische Territorialverteidigung unterstützen. Derartige Pläne, wie sie auch die Londoner „Naval and Military Emigration League“ propagieren, bleiben mangels politischer Unterstützung jedoch deutlich unter den Erwartungen.
Die diskursiven Grenzen des Ontario-Annexionismus
Hughes, als Mitglied der Imperial Federation League und des Oranier-Ordens scharf antikatholisch und hochimperialistisch eingestellt, markiert um die Jahrhundertwende erneut die diskursiven Grenzen des Ontario-Annexionismus, der Ideologie des „Greater Ontario“, seines Unvermögens, effektiv in die hohe Politik Ottawas und Londons vorzudringen. Dort ist man zu deutlich mehr Elastizität in der Lage und betont die längerfristigen Aussichten der Kapitalakkumulation auf dem Hochgras, in den neu aufgerichteten Eisenbahnknotenpunkten, Minenstädten und Agrarhandelszentren des kanadischen Westens, gleichgültig, wer dort siedelt und arbeitet. ― Ohnehin ist der Anteil britischer und anglo-amerikanischer Siedler in den kanadischen Westprovinzen auch in den 1890er-Jahren durchweg hoch, die Englischsprachigkeit der westlichen Provinzen als Ganzes unangefochten und ihre vermeidliche Gefährdung lediglich ein populistisches Konstrukt der Torontoer Rechtspresse.
Rassistische Einwanderungspolitiken
Ultramonarchisten und Hochimperialisten gelingen in dieser Phase lediglich gegen Afroamerikaner sowie Immigranten aus China rassistische Markierungen auf dem Wege der Gesetzgebung: 1903 etwa erhöht das kanadische Parlament nochmals die „Kopfsteuer“ für chinesische Einwanderer drastisch, um ihre Einwanderung weiter zu reduzieren. Zuweilen sucht die Legislative ihre rassistischen Intentionen in klimatheoretischen Fiktionen zu verklausulieren, wenn etwa bestimmte Gruppen potenzieller Einwanderer aufgrund der niedrigen Temperaturen in Kanada angeblich nicht für eine Immigration in den Norden geeignet seien; so formuliert es etwa ein 1910 novelliertes und dezidiert auch gegen Afroamerikaner aus dem Süden gerichtetes Einwanderungsgesetz.
Kanada und der Oranier-Orden im Ersten Weltkrieg
Das destruktive Dynamik siedlerkolonialistischer Identitätsdiskurse, Rassismen und Hierarchisierungen in Kanada erweist schließlich der Erste Weltkrieg. Als britisches Dominion befindet sich das Land bereits ab August 1914 im Krieg mit den Mittelmächten, insbesondere also dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn. Dort, wie auch in Kanada und Großbritannien, kommt es zu einer medial angetriebenen, schließlich propagandistisch und legislativ abgestützten Massenmobilisierung. Industrie und Agrarsektor werden rasch auf die kriegswirtschaftlichen Ziele der Metropole ausgerichtet und durch zahllose Geld- und Sachspendeaktionen begleitet.
In Kanada erfasst insbesondere den englischsprachigen Westen des Dominions eine Welle nationalistischer Kriegsbegeisterung; dieser stellt auch massenhaft Truppen. Weit über 600.000 Kanadier werden schließlich unter Waffen stehen. Es ist dies neuerlich auch die Stunde des Oranier-Ordens, dessen Mitglieder sich in jenen Tagen besonders patriotisch und bellizistisch geben. Allein aus Kanada sollen während de Ersten Weltkrieges rund 80.000 Mitglieder der nationalprotestantischen Bruderschaft an die Front gezogen sein; unter ihnen viele Bürger Ontarios. Kanadische Orangemen stellen damit rund 40 % aller Oranier-Loyalisten weltweit, die auf den Schlachtfeldern des Ersten Krieges zum Einsatz kommen.
Notorischer Antikatholizismus: das Kriegsministerium Hughes
Trotz allem tagespolitischen Widerstreits in den Jahren vor dem Krieg haben sich die engen Verbindungen der kanadischen Oranier-Loyalisten mit dem politischen Establishment in Ottawa und London konsequent erhalten können. Deutlich wird dies vor allem in der Person des vorerwähnten Imperialpolitikers und Hardliners Samuel Hughes. Ungeachtet seines notorischen Antikatholizismus steigt er 1911 zum Kriegsminister auf und amtiert in dieser Funktion bis zum 12. Oktober 1916. Hughes verhindert zunächst gezielt eine Rekrutierung unter Franko-Kanadiern, gelten ihm diese doch ebenso wie irischstämmige Katholiken als notorisch illoyal gegenüber der Krone und dem Empire. Unter den rund 500.000 Soldaten, die durch das Ministerium Hughes schließlich rekrutiert werden können, sind trotz aller Bedenken und Widerstände rund 13.000 Franko-Kanadier; was jedoch weniger als einem Zehntel ihres tatsächlichen Anteiles an der kanadischen Bevölkerung entspricht.
Rassistische Militärdoktrinen
Auf allen Ebenen folgt das Anwerbesystem überdies den tradierten ethnisch-rassistischen Abwertungsdiskursen und Hierarchisierungen der kanadischen Siedlerdemokratie: So sind etwa Schwarze Kanadier von der kämpfende Truppe faktisch ausgeschlossen; weißen Bahamaern, teils Nachfahren loyalistischer Revolutionsflüchtlinge aus Britisch-Nordamerika, empfiehlt man 1914 hingegen, sich unmittelbar den Streitkräften in Kanada anzuschließen ― um nicht mit Einheiten, gebildet aus Schwarzen und Menschen of Color aus der Karibik, nach Europa ziehen zu müssen.
Franko-Kanadier für das kanadische Expeditionskorps
Die Aushebungen in Kanada besitzen unter Hughes‘ Ägide auch eine dezidiert sprachpolitische Dimension: eine Aufstellung québécois’scher Einheiten unter französischer Kommandosprache schließt sich für die, wie erwähnt, rund 13.000 für das Expeditionskorps rekrutierten Franko-Kanadier wie selbstverständlich aus. Dies ändert sich auch nicht wesentlich, als nach Hughes Demission die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wird. Franko-kanadische Soldaten werden kurzerhand in britisch-dominierte Bataillone mit einheitlich englischer Kommandosprache und britischen Offizieren eingefügt. Im ohnedies nicht sonderlich kriegsbegeisterten Québec kommt es schließlich zu Unruhen vor den Rekrutierungsbüros der Armee.
Aus der Perspektive vieler Québécois erscheinen die Wehrpflicht und die anglozentrischen Befehlsstrukturen der Armee wie eine Fortsetzung der sozialen und konfessionellen Diskriminierungen und Hierarchisierungen innerhalb des kanadischen Alltages. In der Folge ist der Krieg in Europa vor allem ein Kampf in Großbritannier geborener, jedoch in Kanada ansässiger Immigranten für das Empire. Sie stellen schlussendlich rund 70 % der Soldaten der „Canadian Expeditionary Force“, deren Einheiten insbesondere nach Europa entsandt werden. Insgesamt rund 61.000 Kanadier werden im „Großen Krieg“ sterben.
Eingeschränkte Bürgerrechte für „Feindstaatenangehörige“
An der Heimatfront indes transformiert sich die Siedlerdemokratie zeitweilig in eine Art Kriegsdemokratie mit eingeschränkten Bürgerrechten; und zwar in erster Linie beschnitten für sogenannte „Feindliche Ausländer“ und kanadische Staatsbürger, die kulturalistisch-implizit als „Feindstaatenangehörige“ konstruiert werden. Sprache und Konfession werden unter den Bedingungen des Krieges nun zur entscheidenden Voraussetzung offen diskriminatorischer Politiken. Das Phantasma eines „inneren Feindes“ in Kanadas Städten und auf der Prärie entsteht, lauthals propagadiert durch publizistische Empire-Bellizisten durch oranisch gesinnte Journalisten, Lehrer, Geistliche, Beamte, politische Mandatsträger, schließlich Veteranen und Kriegsinvaliden insbesondere in Ontario und den Westprovinzen. Die Kriegsläufte, der irische Osteraufstand 1916 und zuletzt die Revolutionen auf dem Kontinent ab 1917 vereinen sich hierbei diskursiv-publizistisch im diffusen Ressentiment gegen Iren und Québécois, „Jesuiten“,„Germans“ und „Kommunisten“ ― verbinden sich aber auch mit dezidiert rassistischen, anti-slawischen Ideologemen.
Internierungen in kanadischen Arbeitscamps
Neben partiell aufbrechender Gewalt in Stadt und Land hat dieser Kriegs- und Feindesdiskurs vor allem unmittelbar legislative Wirkungen: Bereits im August 1914 erlaubt die Dominionsregierung per Gesetz, sogenannte „feindliche Ausländer“ systematisch zu registrieren, gegebenenfalls zu internieren und ihren Besitz einzuziehen. Internierte „Feindstaatenangehörige“ sollen in Arbeitscamps verbracht und in nahe gelegenen Farm- und Forstbetrieben eingesetzt werden. Vor allem Ukrainer mit österreichisch-ungarischer Staatsangehörigkeit sind von den Maßnahmen betroffen. Etwa 8.500 „Enemy Aliens“ werden schließlich in den Camps festgesetzt. Zu dem bis 1920 unterhaltenen Campsystem gehören bis zu 24 Internierungseinrichtungen, verteilt im gesamten kanadischen Dominion, von British Columbia bis nach Nova Scotia.
Die Mittelmächte: „Engländerlager“ und politische Gefangene
Eine ähnliche Funktion erfüllen auch die sogenannten „Zivilinternierungs“- beziehungsweise „Engländerlager“ im deutschen Kaiserreich. Letztere werden ab November 1914 als Reaktion auf die Internierung von Staatsbürgern der Mittelmächte in Großbritannien eingerichtet und bestehen für Bürger des Empires in Deutschland bis Kriegsende. Sie sind jedoch strukturell von Einrichtungen wie etwa dem als besonders brutal geltenden „Thalerhof“ bei Graz (1914-1917) zu unterscheiden, einem Lager für österreichisch-ungarische Staatsbürger slawischer Abstammung; ursprünglich insbesondere solchen mit einer panslawistischen, irredentischen oder kulturautonomistischen Agenda.
Welt im Krieg: Gewaltakte und „Spionageriecherei“
Auch die für Kanada und den US-amerikanischen Westen ab 1914 typischen Gewaltakte gegen Reichsdeutsche, Österreicher oder als „deutsch“ identifizierte Personen oder deren Eigentum besitzen eine Parallele im Machtbereich des „Vierbundes“; etwa in jener Welle schwerer Gewalttaten und willkürlicher Verhaftungen im Sommer 1914 gegen serbische Staatsbürger und Migranten in Wien oder München; auch dies als Folge einer medial aufgeputschten „Spionageriecherei“, wie es in der Diktion kritischer Zeitgenossen heißt, und ein Musterbeispiel xenophober, eruptiver Straßengewalt gegen Feindkonstruktionen während des Ersten Weltkrieges.
Der „War-time Elections Act“ von 1917
Innerhalb des kanadischen Empire-Dominions mit seinen siedlerkolonialistischen Sozialhierarchien, seinen Imperialdiskursen und seiner besonderen demografischen Situation entfaltet vor allem jedoch ein neues Wahlgesetz größte Breitenwirkung: Noch am 21. September 1917 erlässt die Dominionsregierung den sogenannten „War-time Elections Act“. Er bestimmt, dass sämtliche männliche Personen feindstaatlicher Herkunft oder Herkunftssprache, die nach dem 31. März 1902 die kanadische Staatsangehörigkeit erworben haben, fortan ihres Wahlrechtes und weiterer bürgerlicher Rechte verlustig gehen. In seiner Perfidie schließt das Gesetz in einem gesonderten Paragrafen Deutschsprachige im Allgemeinen vom aktiven oder passiven Wahlrecht aus, also etwa auch in Kanada lebende Deutschschweizer oder Siebenbürger Sachsen; oder ehemalige Untertanen des Zaren, die als deutschsprachig gelten.
Feindlicher Wählerblock in „British America“
Einer der emsigsten Befürworter des Gesetzes ist der Bürgermeister von Toronto, Thomas Langton Church (1873-1950), seines Zeichens Oranier-Loyalist mit starkem politischen Rückhalt in Torontos „Patriotenpresse“. Im April 1917 lässt er sich im Bezug auf das zu diesem Zeitpunkt noch parlamentarisch umkämpfte Kriegswahlrecht und die politische Demografie in Westkanada mit den Worten zitieren: „Wir brauchen kein weiteres Québec in Kanada.“ Ein österreichisch-deutscher Wählerblock dominiere bereits im Nordwesten, behauptet der Oranier, und müsse nun gestoppt werden. Ein solcher „Wählerblock“ der Zentralmächte in „British America“ ist jedoch nur eine weitere populistische Fiktion, die vor allem die Reihen hinter einer künftigen Allparteienregierung der Bellizisten unter Premier Robert Borden (1854-1937) schließen soll. Der entschiedene Verfechter einer allgemeinen Wehrpflicht wird mit seinem Unionsbündnis im Dezember 1917 tatsächlich für eine zweite Amtszeit gewählt. Lediglich das französischsprachige Québec versagt sich seiner imperialkonservativen Partei nahezu vollständig ― nach einem von Streiks, Revolutionsfurcht und enthemmten Kriegsnationalismus geprägten Wahlkampf um Kanadas rechte „Britishness“. ― Rund ein Jahr später endet der Erste Weltkrieg mit der Niederlage der Mittelmächte im November 1918. Die Bestimmungen des „War-time Elections Act“ bleiben noch bis 1920 in Kraft.
Einbruch des Krieges in die Welt der kanadischen Mennoniten
Obgleich kaiserliche Spionageringe allenfalls in den Weiten der Fantasie operieren, stößt der nationalistische Kriegseifer ab 1914 auch unmittelbar in die eher beschauliche Präriewelt des kanadischen Westens vor. Allerorten werden nun Saboteure vermutet, christlich-religiöse Pazifisten dabei besonders scheel angesehen. Das Kriegswahlgesetz von 1917 nennt die pazifistische „Secte“ der Mennoniten somit auch explizit und entzieht auch ihnen das Wahlrecht; eine deutliche Markierung dieser religiösen Minderheit innerhalb des britisch-kanadischen Imperial- und Kriegsdiskurses zwar, aber letztlich nur ein formaler Akt. Denn Kanadas fromme Präriepatriarchen fühlen sich allein dem Reiche Gottes verpflichtet ― nicht jedoch Weltreichen im Kriege. Ebenso wenig tangieren sie Verbote gegenüber „feindlichen Ausländern“, Waffen zu tragen; oder Zwangsentlassungen in Gewerbe und Industrie, da sie meist innerhalb ihrer Siedlungen ein Auskommen haben. Überdies sind sie meist im kriegswichtigen Agrarsektor beschäftigt, betreiben dort bedeutende landwirtschaftliche Produktionsverbünde.
Feindessprachen
― Es ist die immerwährende Sprachenfrage, welche Kanadas Mennoniten schließlich doch in harsche Konflikte mit einer kriegsbedingt hochpolitisierten Bürokratie in Kanada bringen wird. Dieser Konfrontation, die 1922 schließlich mit der Auswanderung Tausender kanadischer Mennoniten nach Mexiko ihren Höhepunkt findet, geht ein Prozess der Fremdzuschreibung voraus, der die komplexe mennonitische Polyglossie und Identität gleichsam feindstaatlich auflädt. Die partielle Germanophonie der Taufgesinnten, markiert durch Dorfschule und Bethaus, wird zur exterritorialen Germanosphäre, eine als feindlich imaginierte Imperialität in der Prärie.
Pazifistische „Germans“ auf der Prärie
Religiöse Pazifisten wie die Mennoniten sind in dieser Konstruktion als „Germans“ somit Kriegsgegner des Empires in einem doppelten Sinne: als illoyale Kriegsdienstverweigerer und/oder als besonders gut getarnte Saboteure und Spione der „Deutschen“ im Herzen des Dominions. Sprache und Sprachgebrauch ist hierbei medial-diskursiv der entscheidende Marker. Eine Helvetisierung des Deutschen auf den kanadischen Grasländern, die Behauptung einer geradezu modern anmutenden Plurizentrizität der deutschen Sprache, frei von der autoritär-imperialen Zugriff durch Reichs- und Alldeutsche, ist den Mennoniten vor der kolonialbritischen Bürokratie unmöglich.
Bevölkerungsverhältnisse in Saskatchewan um 1917
Eine propagandistische Bevölkerungskarte Saskatchewans aus der Zeit um 1917 verbindet diese kriegsbedingte Feindkonstruktion gleichsam mit der kulturalistischen Agenda des älteren Ontario-Annexionismus: Die Kartendarstellung könnte für den Wahlkampf 1917 erstellt worden sein und zeigt Gebiete insbesondere zwischen Saskatoon und Regina, den Siedlungszentren der Provinz. Die Bevölkerungsverhältnisse sind dabei farblich markiert: weiße Flächen zeigen Siedlungen von „Angelsachsen britischer und amerikanischer Herkunft“, die zugleich zergliedert scheinen durch blockartige Settlements von nicht-angelsächsischen Kolonisten, insbesondere Deutschen, Österreichern, „Russen“, im Wesentlichen also Ukrainern, und Franko-Kanadiern.
Feindstaatenangehörige, Sektierer und Katholiken
Drei Kolonistengruppen sind besonders hervorgehoben: und zwar die vielfach erwähnten Duchoborzen, sowie Mennoniten, die wiederum aufgeteilt werden zwischen „Progressiven“ und „Colonier-Mennoniten“. Beide Täufergruppen sind den gelb markierten Siedlungen der „Deutschen“ zugeschlagen; es handelt sich hierbei um die mennonitischen Kolonien von Hague und Osler, Herbert und Swift Current. ― „Was wird aus Kanada in hundert Jahren?“ heißt es dramatisch-bange über der bunten Karte, was zugleich als explizite Warnung zu verstehen ist: Angelsachsen bilden gerade einmal die Hälfte der Bevölkerung Saskatchewans ― inmitten des Krieges; Feindstaatenangehörige, pazifistische Sektierer und Katholiken die andere.
Das Ende des autonomen mennonitischen Schulwesens in Kanada
Angesichts dieser imaginären Bedrohungen im ländlichen Raum erscheint die Schulpolitik neuerlich als entscheidender Hebel imperialer Kontrolle. Die politisierte Bürokratie einer Siedlerdemokratie – im Kriegszustand – setzt sich nun auch auf dieser Ebene der Administration in Marsch: So verfügen die provinzialen Schulbehörden von Manitoba und Saskatchewan bereits 1916, das Schulpflichtige nurmehr in rein-englischsprachigen Schulen unterrichtet werden dürfen. Die Verwaltungsdirektive gilt auch für Schulen in konfessioneller Trägerschaft, solcherweise also auch für das mennonitische Schulsystem. Lediglich der eigentliche Religionsunterricht darf noch auf Deutsch erteilt werden; wiewohl nur außerhalb der regulären Unterrichtszeiten. Der behördliche Zugriff auf das konfessionelle Schulwesen der Mennoniten betrifft selbstredend auch die Lehrerschaft. Fortan müssen diese englischsprachige Lehrbefähigungen vorweisen, andernfalls sie ihre regierungsamtlichen Lehrbefugnisse verlieren.
Widerstand gegen eine Militarisierung der mennonitischen Schule
Vielen Mennoniten gelten diese Maßnahmen als Verstoß gegen die im Privilegium von 1873 verbrieften Schulfreiheiten der Gemeinschaft; in der Wahrnehmung des traditionalistischen Flügels, ein schwerer Einbruch in die bisherige Kulturautonomie der Prärie-Mennoniten. Aus der Sicht der Konservativen steht dabei jedoch nicht so sehr die Englischsprachigkeit des Unterrichts zentral, gar die implizite assimilatorische Stoßrichtung der Behörden, sondern der weltlich-patriotische Lehrplan der Schulbehörden. Als besonders anstößig gilt dabei etwa die Verpflichtung zu militaristisch gefärbten Unterrichtsgegenständen oder Flaggenappellen nebst Absingen der Nationalhymne.
Dies unterscheidet den täufertraditionalistischen Flügel der Kanadier-Mennoniten deutlich vom Kriegspatriotismus und Nationalismus vieler reichsdeutscher Mennoniten in jener Zeit. Rund 2.000 Mennoniten ziehen gar während des Ersten Weltkrieges für das Deutsche Kaiserreich in den Krieg. Lediglich ein Drittel dient dabei in der Sanitätstruppe. ― Völlig undenkbar indes für das konservative Mennonitentum auf der anderen Seite des Atlantiks, welches bereits seine behördliche Registrierung als Kriegsdienstverweigerer mit größtem Argwohn betrachtet.
Um die deutsche Sprache geht es nicht
Explizit abgewiesen werden militaristische Lehrinhalte in den mennonitischen Schulen etwa auch durch den seinerzeitigen Ältesten beziehungsweise Bischof der Altkolonisten, Johann J. Friesen (1869-1935); in den Aufzeichnungen seines Nachfolgers Isaak M. Dyck (1889-1969) heißt es etwa über ein Wortgefecht „Ohm“ Friesens mit einem kanadischen Schulinspektor, welcher provozierend gefragt hatte, ob denn die englische Sprache nicht ebenso von Gott sei, wie die deutsche: „Es handelt sich bei uns nicht um die Sprache, sondern wir könnten es unmöglich zugeben, unsere Kinder unter der Flagge und unter der Ausübung des Militarismus zu rechte[n] Bürger[n] […] bilden zu lassen.“
Innermennonitische Konflikte und erste Auswanderungspläne
Das Imperium hat die gleichsam sakrale Sphäre der Mennoniten-Kolonien zwar längst erreicht – etwa mittels emsig beworbener Kampagnen für den Kauf von Kriegsanleihen und Spenden an das Militär; doch nun scheint es geradewegs nach der mennonitischen Zukunft selbst greifen zu wollen. ― So will es zumindest dem konservativen Gemeindeflügel der Mennoniten scheinen, im Wesentlichen repräsentiert durch die Fraktionen der Altkolonier, auch „Reinländer“ genannt, und der Sommerfelder, einer konservativen Abspaltung der zuvor genannten Bergthaler. Der schneidende Vorwurf der Traditionalistenfraktion: Blanker Opportunismus hätte die Mennoniten seinerzeit ins Land gerufen, gemäß den geopolitischen Interessen des Empires; die damit verknüpften Siedlungsprivilegien seien eine Farce, die Mennoniten nunmehr die Betrogenen.
In Verbindung mit der erwähnten Konskription, die sich 1916 bereits mit einer Registrierungspflicht für männliche Personen zwischen 16 und 65 Jahren abzuzeichnen beginnt, formiert sich rasch entschiedener Widerstand. Gerade der konservative Gemeindeflügel der Mennoniten, allen voran die zahlenmäßig stärkste Gruppierung der Altkolonier, geht nun in die Offensive. Und sie sind es auch, die jetzt erstmalig auch eine massenhafte Auswanderung mennonitischer Gemeinden aus Kanada erwägen.
„Falsche Brüder“ und „Verräter“
Die Leiterschaft der Konservativen muss in dieser Lage wohl auch ganz grundsätzlich eine Unterminierung ihrer Autorität befürchten. Der traditionelle Flügel der Mennoniten hatte Russland in den 1870er-Jahren ja vor allem wegen der dortigen Wehrpflicht und einer energisch vorangetriebenen Russifizierung ihrer Schulen verlassen. Dass ihnen in Kanada nun ein ähnliches Schicksal droht, bedeutet implizit auch: Für „wehrlose Christen“ war Kanada die falsche Wahl, die Entscheidung der Ältesten an Dnjepr und Schwarzem Meer seinerzeit ein Fehlschluss. Gleicherweise steigert der Druck in den Behörden innermennonitische Spannungen. Einer der Vorwürfe der Altkolonier: der willfährige Öffnungskurs der „Progressiven“, „falscher Brüder“ und „Verräter“, wie Isaak M. Dyck sie tituliert, habe die Anglisierung des mennonitischen Schulwesens ab den 1890er-Jahren überhaupt erst möglich gemacht. Dycks Schriften spiegeln die tiefen Verwerfungen innerhalb der Gemeinden ob der Frage des „Schulzwangs“ und der „Publik-Schulen“ und suchen den Konflikt in einen größeren biblizistischen Horizont zu fügen; gleicherweise in die tradierte Verfolgungsgeschichte der religiösen Gemeinschaft als einem Volk auf Wanderschaft ― und auf der Flucht.
Mennonitischer Schulstreik und Niederlage vor dem Privy Council 1920
Die Strategie der konservativen Gemeindefraktionen — sie verlegen sich auf eine Art Schulstreik. Altkolonier und Sommerfelder lassen ihre Kinder vielfach zu Hause und nehmen ab 1918 in einer Phase weiterer Eskalation schließlich auch behördliche Anzeigen, Gerichtsbescheide, Strafzahlungen, vereinzelt gar Gefängnisbußen in Kauf, was gerade ärmere Farmer unter ihnen finanziell ruiniert. Ihre Berufung auf die verbrieften Freiheiten des Privilegiums von 1873 gehen in Manitoba und Saskatchewan gehen jedoch ins Leere. Ihre möglicherweise nicht immer adäquat agierenden Rechtsbeistände sowie offene Feindseligkeit in den Behörden tut ein Übriges, die täufertraditionalistische Fraktion weiter zu isolieren.
Als schließlich der Privy Council als das höchste Gericht des Empires im fernen London entscheidet, die kanadische Dominionsregierung sei in den 1870er-Jahren gar nicht befugt gewesen, derartige Privilegien auszustellen, sind alle Rechtsmittel ausgeschöpft. Die Dominionsregierung habe sich widerrechtlich Kompetenzen angemaßt, für welche eigentlich die Provinzen zuständig seien, wie es in der Urteilsbegründung des Gerichts im Juli 1920 heißt. Die Eingriffe der Schulbehörden Manitobas und Saskatchewans sind also rechtens.
Mennonitische Delegaten: Landsuche und Privilegien
Die Auswanderungspläne der Konservativen konkretisieren sich nun. Wohlweislich hat bereits im Jahr zuvor eine sogenannte „Bruderschaft“ der Altkolonier, eine Versammlung ihrer geistlichen Leiter in Saskatchewan und Manitoba, Delegaten zur Landsuche ausgesandt. Nach gescheiterten Unterhandlungen in Mississippi (April 1920) und Québec (August 1920) richten sich die Blicke der Traditionalisten schließlich nach Südamerika. Dort gelingt es den mennonitischen Emissären in den folgenden Monaten tatsächlich, weitreichende Privilegien im Sinne ihrer täuferischen Freiheiten auszuhandeln: 1921 zunächst mit den Regierungen in Paraguay und Mexiko; 1930 schließlich auch mit den Behörden in Bolivien. Gleichgerichtete Verhandlungen in anderen lateinamerikanischen Staaten scheitern jedoch, etwa in Brasilien.
Álvaro Obregón und das Mennoniten-Privilegium vom 26. August 1921
Von entscheidender Bedeutung wird schließlich die Vereinbarung mit dem mexikanischen Staatspräsidenten Álvaro Obregón (1880-1928), dessen Regierung bereits 1920 die verstärkte Anwerbung von Agrarkolonisten angekündigte. Auf höchster politischer Ebene werden den Altkolonier-Mennoniten am 26. August 1921 die Freistellung vom Militärdienst und der Eidespflicht zugesichert, ferner umfassende Schulautonomie und Selbstverwaltungsrechte. Überdies bieten sich ihnen im Norden des Landes, auf den dünn besiedelten, agrarkapitalistisch noch wenig entwickelten Hochebenen Chihuahuas, günstig zu erwerbende Landstrecken. Handelseinig wird man sich schließlich mit einflussreichen mexikanischen Großgrundbesitzern, welche im postrevolutionären Mexiko ihre baldige Enteignung fürchten.
Die riesigen Güter dieser Latifundistas werden schließlich zur Errichtung eines größeren, zusammenhängenden Siedlungsblocks nahe des Örtchens Cuauhtémoc auserkoren. Bereits im März 1922 rollt ein erster Eisenbahnzug mit Mennoniten aus Manitoba in Cuauhtémoc ein. Und schon wenige Monate später, im Dezember 1922, in diesen Tagen also vor 100 Jahren, wird das erste mennonitische Bet- und Versammlungshaus auf dem nordmexikanischen Plateau errichtet sein.
Von Kanada nach Mexiko: Mennoniten-Kolonien in Chihuahua ab 1922
In weiteren Reise- und Güterzügen, die jeweils über Texas nach Chihuahua gelangen, treffen bis 1926 möglicherweise bis zu 7.000 Mennoniten aus Kanada ein ― die Zahlen divergieren in der Literatur zwischen 6.000 und 8.000 Personen. Mehr als 5.000 von ihnen werden sich schließlich dauerhaft in Mexiko niederlassen. Drei Siedlungsblöcke beziehungsweise „Kolonien“ entstehen bereits 1922 in Chihuahua: Manitoba, Swift Current und Santa Clara, eine Gründung der Manitoba-Sommerfelder mit einem eigenen Siedlungsprivilegium. Traditionelle preußische, russländische und nun auch kanadische Namen tragen die weit verstreuten Dörfer der neuen Kolonisten aus dem Norden. Obgleich das Land und seine Aussichten für den Ackerbau lange Zeit überaus skeptisch betrachtet werden, stabilisiert sich hier auf rund 2.000 Höhenmetern alsbald ein zusammenhängender, agrarkapitalistischer Komplex; bestehend aus Ackerbau-, Milchvieh- und Handwerksbetrieben, verstreuten Handelspunkten und weitläufigen Obstplantagen, insbesondere Apfelpflanzungen. Eine ähnliche Entwicklung nimmt auch die bereits ab 1924 von Saskatchewan ausgehende Altkolonier-Ansieldung in Durango. ― Das „Ackersvolk“, wie sich die mennonitischen Delegaten seinerzeit gegenüber mexikanischen Offiziellen bezeichnen, hat eine neue Heimat gefunden; und die mexikanische Regierung ihre Agrarier.
„Wir feiern unsere Geschichte“: 100 Jahre Mennoniten in Mexiko
2022 haben insbesondere Mennoniten in den Kolonien von Chihuahua den 100. Jahrestag ihrer Ansiedlung unter dem Obregón-Privilegium gefeiert; öffentlichkeitswirksam und in betonter Harmonie mit ihren lateinmexikanischen Nachbarn, Arbeitskollegen, Geschäftspartnern und Freunden. Unter dem deutschsprachigen Motto „Wir feiern unsere Geschichte“ konzentrierten sich die zentralen Veranstaltungen des Jubiläums dabei in der Manitoba-Kolonie; darunter ein Gedenkgottesdienst, eine Feierstunde mit Vertretern der mexikanischen Politik, sowie ein abendliches Konzert mit mexikanischen und mennonitischen Künstlern in Cuauhtémoc. Begleitet wurden die Festivitäten in der ersten Augusthälfte fernerhin durch Sportturniere, Kunst-, Handwerks- und Agrarausstellungen; durchgeführt vielfach auch in Zusammenarbeit mit nicht-mennonitischen Museen und Bildungsinstituten in Chihuahua.
Mennoniten in den mexikanischen Kolonien Manitoba und Swift Current
Die professionelle Vermarktung und Organisation der Festivitäten und Ausstellungen entspricht der eher dominanten Stellung der progressiven Hauptrichtung des konservativen Mennonitentums in den „Mutterkolonien“ von Chihuahua. Dabei kennzeichnen nicht allein Landbesitz und Automobile ihre wirtschaftliche Prosperität und Stratifikation, sondern auch das über Jahrzehnte hinweg ausgebaute Sozial- und Schulwesen dieser Hauptkolonien nördlich von Cuauhtémoc. Bestimmte Fraktionierungen in den Siedlungen sind dabei partiell auch an Gemeindestrukturen, Frömmigkeitsformen und Bildungsidealen des nordamerikanischen Evangelikalismus und eines deutschländischen Freikirchentums orientiert.
Probleme der mennonitischen Landwirtschaft in Mexiko
In den vergangenen 100 Jahren hat sich die Landstrecke nördlich der einstigen Viehverladestation von Cuauhtémoc zu einem bedeutenden Zentrum der mexikanischen Landwirtschaft entwickelt ― aller klimatisch bedingten Widrigkeiten zum Trotz; denn bis heute kämpfen Mexikos Mennoniten mit dem semiariden Klima der Halbwüstenregion. Ihre großflächigen Brunnen- und Bewässerungssysteme gefährden überdies den örtlichen Grundwasserspiegel. Bereits in den 1950er-Jahren zwingt eine längere Dürreperiode im Norden Mexikos zur Rückwanderung zahlreicher Familien nach Kanada. Immer wieder scheitern neue Landnahmeprojekte an klimatischen Unbilden vor Ort; Mitte der 1940er-Jahre etwa im tropischen Klima der mexikanischen Golfküste. Zugleich erfordert das agrarzentierte christliche Lebensideal der „Mennos“ und ihre vergleichsweise hohe Geburtenrate zur beständigen Expansion vermöge kollektiver Landkäufe. Bis heute ein zentrales Merkmal des Kolonie-Mennonitentums und seines religiösen Kollektivismus.
Die Nord- und die Quellenkolonie in Chihuahua
Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg entstehen nördlich der Kolonien Manitoba und Swift Current weitere Ansiedlungen: die Nordkolonie, dezidiert als Tochterkolonie, und die neu aufgerichtete Quellenkolonie. Die allmähliche Stabilisierung und Integration der Mennoniten in den mexikanischen Markt zieht mitunter auch andere konservative Täufergemeinschaften an. Nach der 1948 gegründeten Quellenkolonie etwa kanadische „Kleingemeindler“, gleichfalls dem preußisch-russländischen Traditionszusammenhang der Mennoniten entstammend, wiewohl mit stärker pietistischer Ausrichtung und einer spezifischen religiösen Bildungsagenda. Und selbst US-amerikanische Altamische oder aus der Sowjetunion geflohene Mennoniten versuchen zeitweilig eine Etablierung in dem mittelamerikanischen Land.
Konservative Altkolonier-Mennoniten in Mexiko
Der Kauf von Land und die Gründung von Tochterkolonien, auch als Folge sozialer und religiöser Spannungen, setzen sich bis in die Gegenwart fort. Gegenwärtig bilden insbesondere die Bundesstaaten Durango, Zacatecas sowie der karibische Estado Campeche das Ziel kollektiver Landkäufe und Ansiedlungen, insbesondere durch traditionalistische Mennoniten. Der zwischen mexikanischer Golfküste und der Grenzregion zu Guatemala und Belize gelegene Bundesstaat Campeche hat sich gar zum agrarökonomischen Zentrum des äußersten konservativen Flügels der Altkolonier in Mexiko entwickelt; so nutzen Vertreter desselben im Gegensatz zu den meisten Altkolonisten in Chihuahua keine Automobile, sondern Kutschen; gleichwohl ackern sie mit Traktoren. Ihre massiven Waldrodungen in Campeche haben sie bereits in ernste Konflikte mit mexikanischen Behörden gebracht. Umweltauflagen und Programme für eine nachhaltigere Landwirtschaft lassen sich in vielen Mennoniten-Siedlungen bisher nur schwer durchsetzen.
Insgesamt leben gegenwärtig etwa 30.000 getaufte Glieder des konservativen Spektrums mit plautdietscher Umgangssprache in Mexiko. Mehr als 70 % von ihnen gehören den verschiedenen Unterströmungen und Fraktionen der Altkolonier-Mennoniten an.
Mennonitische Migrationsbewegungen
Mexiko fungiert auch als Drehkreuz für größere mennonitische Wanderungsbewegungen gen Nord und Süd; im Wesentlichen sind diese wirtschaftlich-klimatisch oder religiös bedingt. In einer beträchtlichen Größenordnung gehen diese Migrationsbewegungen auch nach Kanada, wo inzwischen wieder eine größere Altkolonier-Gemeinschaft kanadischer Staatsbürger lebt. Die Siedlungen in Nordmexiko sind seit Jahrzehnten überdies Ausgangspunkt für Koloniegründungen in anderen Staaten Lateinamerikas; 2018 versuchsweise auch in Westafrika, wo jedoch kein Privilegium ausgehandelt werden konnte. Große Bedeutung besitzen heute vor allem die Mennoniten-Kolonien in Paraguay und Bolivien; Letzteres insbesondere als Heimat betont konservativer Altkolonier-Mennoniten aus Mexiko. Eine erste Ansiedlung entsteht dort 1967.
Die mennonitische Ansiedlung in Belize ab 1958
Ende der 1950er-Jahre ziehen konservative „Kanadier“ gar noch einmal die Aufmerksamkeit britischer Kolonialpolitiker und Landagenten auf sich. Mit ihrer Unterstützung dürfen sich 1958 rund 350 mexikanische Mennonitenfamilien in Britisch-Honduras, dem heutigen Belize, niederlassen, einem ca. 23.000 km² großen Landstreifen auf der Yucatán-Halbinsel. Die Siedler gehören in ihrer Mehrheit zur Fraktion der Altkolonier-Mennoniten; ihnen schließen sich seinerzeit auch Kleingemeindler und Sommerfelder an. Wirtschaftliche Probleme und Widerstand gegen eine allzu starke Einfügung in das mexikanische Sozialstaatsgefüge haben einen Teil der konservativen Täufernachfahren erneut auf Wanderschaft begeben lassen.
Britisch-Honduras: Ein neues Siedlungsprivilegium für die Mennoniten
Rechtliche Grundlage ihrer Niederlassung in der karibischen Kronkolonie ist ein weiteres mennonitisches Siedlungsprivilegium, ausgehandelt mit dem damaligen Gouverneur in Belize City, Colin Thornley (1907-1983). Thornley, Sohn eines Arztes aus Nordengland und zuvor als hoher Beamter in der Kolonialverwaltung Kenias aktiv, gewährt den Mennoniten aus Mexiko am 18. Dezember 1957 weitreichende Ansiedlungsprivilegien, gleicherweise in Erwartung eines besonderen agrarökonomischen Entwicklungsschubes durch die Zuwanderer. Neben den obligatorischen Täuferfreiheiten, kontraktiert das Privilegium auch das Recht der mennonitischen Siedler auf ihr tradiertes Sozialsicherungssystem, das sogenannte „Waisenamt“; desgleichen ein erklärtermaßen deutschsprachiges Schulwesen ― unter einer mennonitischen Lehrerschaft.
Das belizische Privilegium steht ebenso wie das mexikanische bis heute für die Mennoniten in Geltung.
Literatur
- Auswanderung von Canada nach Mexiko anno 1922. Geschrieben vom Ältesten Isaak M. Dyck. Erster Teil (Band 1). Cuauhtémoc ³1995.
- Kraybill, Donald B., Concise Encyclopedia of Amish, Brethren, Hutterites, and Mennonites. Baltimore 2010.
- Thompson, Graeme Andrew, Ontario’s Empire: Liberalism and ‚Britannic‘ Nationalism in Laurier’s Canada, 1887-1919. Thesis, Faculty of History, University of Oxford 2016.
Netzressourcen