Die französische Gebietskörperschaft Martinique (CTM) verfügt seit dem 2. Februar über eine neue Flagge: ein rotes Dreieck auf der Hissseite mit zwei horizontalen grünen und schwarzen Streifen. Bewusst greift die neue martinikanische Fahne damit auch die Farben der panafrikanischen Bewegung auf: rot-schwarz-grün; atlantikweit popularisiert wurden diese bereits ab den 1920er-Jahren durch die Bewegung des jamaikanischen Politikers Marcus Garvey (1887-1940). Das neue Inselbanner wird Martinique künftig auf internationaler Bühne repräsentieren, etwa bei Sport- oder Kulturveranstaltungen.
Martiniques Bevölkerung bestimmt eigene Flagge und Hymne
Der Entscheidung des Inselparlaments von Martinique ging ein öffentliches Auswahlverfahren voraus, das bereits Anfang November 2022 gestartet worden war. Die Bevölkerung „Matiniks“ war dabei aufgefordert worden, Vorschläge für eine neue Fahne sowie eine neue Inselhymne einzureichen und schließlich über diese abzustimmen ― per Online-Votum. Der mehrwöchige Auswahl- und Befragungsprozess wurde jedoch von technischen Pannen, Cyberangriffen und Verzögerungen begleitet. Anfang Januar musste das Verfahren wegen Manipulationsvorwürfen zeitweilig sogar eingestellt werden. An dem Internet-Votum der Bevölkerung Martiniques beteiligten sich schlussendlich nur 26.633 Personen.
Rot-grün-schwarz: Panafrikanische Flagge für Martinique
Zum Sieger der Online-Abstimmung wurde Mitte Januar vorübergehend Vorschlag „242“ erklärt, ein gleichfalls in den panafrikanischen Farben der Garveyiten gehaltener Entwurf, welchen jedoch mittig ein schwarzer Kolibri zierte, eines der traditionellen Wappentiere der Antilleninsel. Nach Bekanntwerden von Plagiatsvorwürfen gegen den eigentlich mit 8.000 € zu prämierenden Siegerentwurf verzögerte sich der Entscheidungsprozess für Martiniques neue Flagge nochmals. Am 2. Februar schließlich wurde Proposition „891“ zum Gewinner des Verfahrens erklärt und in einer Plenarsitzung der „Assemblée de Martinique“ offiziell bestätigt: das vorerwähnte Banner also mit rotem Dreieck und zwei übereinanderliegenden grünen und schwarzen Trapezen. Panafrikanische Farbkombinationen dominierten in vielen der eingereichten Vorschläge ― was jedoch nur wenig überraschte vor dem Hintergrund der martinikanischen Politik und der besonderen geschichts- und identitätspolitischen Kontroversen, welche die einstige französische Plantagenkolonie seit Jahrzehnten prägen. Ein Blick in die dramatische Geschichte der Antilleninsel verlohnt hier unbedingt.
Ein antikolonialistisches Banner
Bereits die Bekanntgabe der neuen Flagge durch den Präsidenten des CTM-Exekutivrats, Serge Letchimy, verdeutlichte diese engen historischen Zusammenhänge. Letchimy ist Vorsitzender der „Parti Progressiste Martiniquais“ (PPM) und befürwortete als solcher bereits im Oktober 2022 einen panafrikanischen, rot-grün-schwarzen Flaggenentwurf ― und dies nicht von ungefähr: die PPM ist nicht nur stärkste Kraft der Parlamentsmajorität „Alians Matinik“, sondern auch einstige politische Heimat des martinikanischen Schriftstellers und Philosophen Aimé Césaire (1913-2008), einem der Hauptvertreter der literarisch-antikolonialen Schule der „Négritude“. Als Aimé Césaire am 18. April 2008 zu Grabe getragen wurde, zierte gleichfalls eine rot-grün-schwarze Flagge seinen Sarg. Das panafrikanisch-antikolonialistische Banner wehte seinerzeit auch über der Menschenmenge im Stade d’Honneur de Dillon von Fort-de-France, wo die Trauerzeremonie für den verstorbenen Gründer der PPM stattfand.
Antikolonialismus und Garveyismus in den 1960er-Jahren
Die Farben rot-grün-schwarz prägen bis heute auch das Logo der sozialistischen PPM. In den 1960er-Jahren wurde die panafrikanische Trikolore offenbar erstmalig durch die „Organisation de la Jeunesse Anticolonialiste de Martinique“ (OJAM) popularisiert. Ein 1962 veröffentlichtes OJAM-Manifest gegen Polizeigewalt und Kolonialrassimsus in dem Überseedépartement schmückte damals offenbar auch die Fahne der von Garvey 1914 gegründeten „Universal Negro Improvement Association and African Communities League“ (UNIA). Die Beziehung heutiger martinikanischer Flaggentraditionen auf die UNIA oder die OJAM der 1960er-Jahre sind jedoch historisch umstritten. Dessen ungeachtet ist das rot-grün-schwarze Drapeau heute unbestreitlicher Teil des politischen Lebens auf Martinique.
„Anti-héritage colonial“: Geschichts- und identitätspolitische Kämpfe der Karibik
― Gleichwohl nicht als schlichte Politfolklore oder als bloßes Merkzeichen antikolonialistischer, linksautonomistischer Bestrebungen in der Tradition der OJAM und Aimé Césaires ― Rot-Grün-Schwarz ist auch ein zentrales Symbol der Unabhängigkeitsbewegung Martiniques und damit Gegenstand heftiger, gerade auch innermartinikanischer Kontroversen; insbesondere im Kontext politischer Positionen, die im französischen Diskurs als „anti-héritage colonial“ bezeichnet werden. Sie traten auf Martinique zuletzt etwa bei Ausschreitungen gegen Symbole und Geschichtsbilder des französischen Zentralismus hervor ― gleichsam atlantisch verknüpft im Gefolge antikolonialistisch-antirassistischer Demonstrationen nach dem gewaltsamen Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd.
Militanz und Erinnerungspolitiken auf Martinique
Dabei wurden im Mai und Juli 2020 Statuen des Gründers der Plantagenkolonie Martinique, Pierre Belain d’Esnambuc (1585-1637), sowie des Abolitionisten Victor Schœlcher (1804-1893) zerstört. Letztere Gewaltaktion wurde damit begründet, dass eine geschichtspolitische Fokussierung auf Personen wie Schœlcher die autoemanzipatorische Rolle von schwarzen Martinikern während des Abolitonsprozesses um die Mitte des 19. Jahrhunderts völlig überdecke; beispielsweise den martinikanischen Versklavten „Romain“, einem sogenannten „Tambouyé“ („Trommler“) mit wichtigen Funktionen in den klandestinen Informationssystemen der Versklavten auf den Plantagen der „Zuckerinsel“. ― Die seinerzeitigen Angriffe auf öffentliche Denkmäler erfolgten offenbar und wenig überraschend aus dem Umfeld radikaler Independisten und stießen auf Martinique und in Frankreich vielfach auf Kritik. Der ungleich schärfere „Antibéké“-Diskurs dieses politischen Lages ― gegen das Fortwirken einer alteingesessenen kolonialistischen Pflanzer-Oligarchie auf Martinique – verschwand indes unter den Spuren der Gewalt.
Garcin Malsa: Flaggenprovokationen in Rot-Grün-Schwarz
Die herausgehobene Stellung der rot-grün-schwarzen, panafrikanischen Flagge, die nunmehr also die Gebietskörperschaft Martinique auf internationaler Ebene repräsentieren soll, gewann schon vor rund 30 Jahren stark an Bedeutung ― und zwar beiderseits des Atlantiks: 1995 wurde das Drapeau kurzerhand am Rathaus einer Landgemeinde im Süden von Martinique angebracht. Verantwortlich hierfür einer der emsigsten Befürworter einer Unabhängigkeit Martiniques in jenen Jahren, Garcin Malsa, welcher kurz zuvor zum Bürgermeister der Gemeinde Saint-Anne gewählt worden war. Französische Karibikurlauber beschwerten sich hierauf teils persönlich beim damaligen Präsidenten der Republik Jacques Chirac ob der politischen Provokationen in der Kommune Saint-Anne.
― Rot-Schwarz-Grün: Was im Mutterland einen Affront darstellte, galt Malsa und seine Unterstützern indes als weit in die martinikanische Vergangenheit zurückreichendes Symbol des Widerstandes gegen Versklavung und Kolonialrassimsus, etwa im Horizont eines blutigen Aufstandes im Süden von Martinique im Jahre 1870 mit weit mehr als 100 Toten. ― Nach der Niederschlagung der Revolte waren rund 90 Martiniker zudem in Straflager nach dem pazifischen Neu-Kaledonien verbannt worden.
Politische Neutralität im öffentlichen Dienst
Gleich, ob Mythos oder realgeschichtliches Freiheitssymbol über den Feldern des Zuckerrrohrs ― Malsa vermochte als Chef des 1992 gegründeten independistischen „Mouvement des démocrates et écologistes pour une Martinique souveraine“ mit dieser Aktion, einen überaus langen Reigen von Gerichtsverfahren, Protesten und Gegendemonstrationen zu eröffnen. 2005 erklärte ein französisches Gericht schließlich jedoch, das Anbringen der panafrikanisch-martinikanischen Flagge sei ein Verstoß gegen den Grundsatz der politisch-weltanschaulichen Neutralität im öffentlichen Dienst.
Independisten und Linksautonomisten in der martinikanischen Politik
Trotz aufsehenmachender Aktionen dieserart hatten Bündnisse und Parteien der Independisten auf Martinique bisher zwar keinen durchschlagenden Wahlerfolg; dennoch sind erklärte Befürworter einer Unabhängigkeit auch in der Zusammensetzung der 2021 gewählten „Assemblée de Martinique“ vertreten ― und zwar wesentlich als Teil des gemäßigt-independistisch-autonomistischen Oppositionsblocks „Gran Sanblé pou Matinik“, der 14 der 51 Sitze in der Versammlung stellt. Stärkste Kraft innerhalb dieses Oppositionsbündnisses ist die „Mouvement indépendantiste martiniquais“ (MIM), die eine eigene Flaggentradition pflegt. Bedeutsam in diesem Spektrum ist zudem die MIM-Abspaltung „Péyi-A“. Die erst 2019 gegründete Partei konnte bereits vier Abgeordnete in die „Assemblée de Martinique“ entsenden, des Weiteren zwei Abgeordnete in die Pariser Nationalversammlung. Auch „Péyi-A“ tritt öffentlich mit einer panafrikanischen, rot-grün-schwarzen Symbolik auf und dürfte, wie wohl das gesamte independistisch-autonomistische Parteienspektrum Martiniques, das Ergebnis der Flaggenwahl von Anfang Februar begrüßt haben.
Ipséité und Lambi: Martinikanische „Selbstheit“
Das martinikanische Flaggenvotum von 2022/23 ist nicht das erste derartige Verfahren in der Geschichte der Antilleninsel. Bereits 2018 hatte die französische Gebietskörperschaft nach einer offiziellen Flagge für Martinique gesucht. Bei diesem ersten Wettbewerb war zunächst eine grün-blau-weiße, auch als „Ipséité“ bezeichnete Fahne zum Siegerentwurf erkoren worden. Als Wappentier schmückte das Drapeau seinerzeit eine „Große Fechterschnecke“. Die Muschel der lokal als „Lambi“ bezeichneten Mollusca wird auf Martinique traditionell auch als Musikinstrument gebraucht. Der Flaggenvorschlag der „Ipséité“ wurde jedoch im November 2021 durch ein martinikanisches Gericht zurückgewiesen, mit der Begründung, dass derlei Amtsverfügungen nicht in die Zuständigkeit des CTM-Präsidenten gehörten, sondern in jene der martinikanischen Volksvertreter; was 2022 den Weg zu einer erneuten Volksbefragung auf Martinique ebnete, die am 2. Februar des Jahres nun also ihr offizielles Ende fand.
Sklavereigeschichtliche Dimensionen der „Vier-Schlangen-Flagge“
Ungleich kontroverser gestaltete sich 2018 der Umgang mit einem weiteren martinikanischen Flaggensymbol ― prekärerweise als Teil des Dienstwappens der Gendarmerie von Martinique: die blau-weiße, sogenannte „Vier-Schlangen-Flagge“, die ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für Martinique und das benachbarte St. Lucia dienstlich-repräsentativ im Gebrauch war. Zudem orientierte sie sich unmittelbar an der damaligen Seeflagge der französischen Handelsmarine und war solcherweise also direkt mit der Geschichte atlantischer Sklavereisysteme verknüpft. 2018 wurde sie auf Betreiben des französischen Präsidenten Emmanuel Macron aus dem Wappen der Inselpolizei entfernt.
Martinique als teilautonome französische Gebietskörperschaft in der Karibik
Martinique ist mit seinen rund 360.000 Einwohnern seit 2015 eine Gebietskörperschaft (Collectivité territoriale unique), deren Volksvertretung Kompetenzen einer französischen Region und eines Départements in sich vereint. Die karibische Insel hat damit den gleichen verwaltungsmäßigen Sonderstatus wie etwa Französisch-Guayana oder die Mittelmeerinsel Korsika. Martinique stieg während des 18. Jahrhunderts zu einer der drei großen, auf Versklavungssystemen basierende Plantagenkolonien der Französischen Antillen auf. Zu diesen gehörten seinerzeit auch Guadeloupe und Saint-Domingue, das heutige Haiti. Die Sklaverei wurde in Französisch-Westindien erst 1848 abgeschafft. Etwa 80 % der Bevölkerung Martiniques stammt von afrikanischstämmigen Versklavten ab.