
Guiana ― Land der Ströme – und der Plantagen: In einer Eingabe an Friedrich II. von Preußen (1712-1786) empfiehlt ein weit gereister pommerscher Fahrensmann dem Herrscherhaus 1774 die Anlage einer Plantagenkolonie am Rivier Corantijn (Courantyne). Zucker und Kaffee könnten hier überreichlich durch Versklavte angebaut werden. Dem Kolberger Joachim Nettelbeck (1738-1824), Verfasser einer Denkschrift an Friedrich den Großen, ist der Küstenstrich zwischen dem heutigen Guyana und Suriname wohl vertraut. Rund ein Jahr zuvor will sich der Seemann längere Zeit am Corantijn aufgehalten haben; in der Funktion eines Steuermanns an Bord eines Sklaventransporters auf dem Weg nach Berbice; ingleichen als Warenaufseher/Faktor und Schiffer im Schaluppenhandel für die landeinwärts liegenden Plantagen.
Compagnien und Sozietäten zwischen Suriname und Berbice
Der Corantijn markiert seinerzeit das Grenzgebiet zweier niederländischer Kapitalgesellschaften, der „Sozietät von Suriname“ und der „Sozietät von Berbice“. Darüber hinaus verfügt auch die niederländische „Westindien-Compagnie“ noch über Handelsvorrechte in der Region. Die Behauptung Nettelbecks, das Gebiet am Corantijn würde von keiner europäischen Macht beansprucht, entspricht also keineswegs den politischen Realitäten. Beide Kolonien sind zum Zeitpunkt der Nettelbeck’schen Denkschrift überdies durch einen Damm im Landesinneren verbunden; der Oberlauf des Corantijn zudem flussaufwärts durch zwei Außenposten gesichert. ― Eine fremde Macht kann sich ohne Wohlwollen der Niederländer hier nicht ohne Weiteres festsetzen.
„Eine schöne preußische Kolonie am Kormantin„
Nettelbecks Eingabe widerspricht zwar der politischen Wirklichkeit in den Guianas, doch der etwas klamme Handelskapitän wiederholt sie einfach noch einmal, 1786, nunmehr gegenüber des „königlichen Greises“ Nachfolger Friedrich Wilhelm II. (1744-1797). Während „Fridericus Rex“ Nettelbecks Eingabe schlicht unbeantwortet lässt, nimmt der Thronfolger das Gesuch des Kolbergers zumindest zur Kenntnis, um es nachfolgend in der preußischen Außenhandelsbürokratie auf Sand laufen zu lassen. Spätestens jetzt ist sein Vorschlag über „eine schöne preußische Kolonie am Kormantin“ nochmals erweitert worden: Zur Versorgung der imaginären preußischen Plantagien am Corantijn mit Versklavten gilt es auch, so Nettelbeck nun, Niederlassungen an der westafrikanischen Küste zu erwerben; es also den Hohenzollern’schen Altvorderen gleichzutun.
Jene hatten, beginnend mit dem Großen Kurfürsten, zwischen 1683 und 1721 im heutigen Ghana und auf Arguin vor der Küste Mauretaniens befestigte Stützpunkte unterhalten. Wesentlich zum Zwecke des Versklavungshandels über Dänisch-Westindien. ― 1772 will Nettelbeck, so berichtet er im zweiten Band seiner Autobiografie, gar in der ehemaligen brandenburgischen Schanze Axim gewandelt sein; unter sachkundiger Anleitung eines gebürtigen Hannoveraners, gleichfalls im Dienste der Niederländer stehend.
Versklavung: Joachim Nettelbeck und die Negotien des Atlantiks
Die Region am Golf von Guinea, einem der Zentren des atlantischen Versklavungshandels, ist Nettelbeck seit frühester Jugend gut vertraut. Schon als elfjähriger Schiffsjunge wird er als Dolmetsch für die Handelssprache des Guinea-Kreol („Guinea Coast Creole English“) im litoralen Schaluppenhandel Westafrikas angelernt; wird emsig bekannt mit den Negotien des Atlantiks, mit Verhandlungstaktiken und Assortiments, mit Versklavern und ihren merkantilen Mittelsmännern.
Am anderen Ende der europäisch-atlantischen Versklavungsgeschäfte, in Amerika, lernt er alsbald auch die Welt der Plantage kennen. Als Kajütenwärter, als Steuermann schließlich und, wie erwähnt, in der Verantwortung eines Cargos. Mitunter über Wochen hinweg ist er dabei für Handel und Warentransport auf den Rivieren Guianas verantwortlich, an deren Ufern sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zahlreiche Zucker-, Kaffee- und Kakaopflanzungen reihen, Meile um Meile flussaufwärts tief in das Küstenhinterland hinein. Nettelbeck tritt dabei offenbar auch immer wieder in engen Kontakt mit Plantageneignern, von welchen ein Teil ebenfalls aus deutschen Landen stammt.
Auf einer dieser Plantationen, im Besitz eines ehemaligen, aus Deutschland stammenden Mietsoldaten, mutmaßlich Matheus Sigismundus Pallak (1709-1767), der am Commewijne zu großem Reichtum gelangt ist und sich später in Leiden niederlässt, will er gar die „vergnügtesten Tage“ seines Lebens verbracht haben. In seiner zwischen 1821 und 1823 erschienenen Autobiografie beschreibt Nettelbeck ausführlich diese Dienste, Begegnisse und Begegnungen auf Sklavenhandelsschiffen und Plantagen, in Forteressen und Faktoreien.
„Schandfleck der Menschheit“
Nettelbecks bieder-berühmte „Lebensbeschreibung“ bedient in ihrer Darstellung des Versklavungshandels nicht allein die Erwartungen seiner deutschsprachigen Leserschaft an Exotismus und „Abentheuer“. ― Sie ist ihm auch Rechtfertigungsgrund gegenüber einem partiell abolitionistisch-bewegten Zeitgeist im Gefolge der Atlantischen Revolutionskriege zwischen 1776 und 1815. Beginnend mit der Massenflucht Zehntausender Versklavter hinter die britischen Linien im Gefolge der Amerikanischen Rebellion, bis hin zum Gewaltfuror während der Haitianischen Revolution ab 1791. Vor allem in der anglo-atlantischen Welt der Versklavung und der Proto-Industralisierung formieren sich seinerzeit auch neue, rationalisierende Diskurse, die auf eine Verbesserung der Lebensumstände der Versklavten gerichtet sein wollen; Ameliorationshorizonte, die zugleich eine Nord-Süd-Hierarchisierung sklavistischer Ökonomien konstruieren helfen und künftige imperiale Expansionsrichtungen bisweilen nur schwer verhüllen; von den Südstaaten nach Kuba etwa, nach Hispaniola oder in das Mississippi-Becken.
Nettelbeck sucht diese zeitgeschichtlichen Entwicklungen und die mit ihnen verknüpften Debattenstände indirekt aufzugreifen, geißelt pflichtschuldig die Sklaverei als „Schandfleck der Menschheit“, verurteilt halbherzig auch spezifische Gewaltpraktiken des Versklavens, kehrt sich keineswegs jedoch gegen die Institution der Sklaverei selbst, insbesondere nicht in Westindien und in Amerika.
Der atlantische Preuße – Nettelbeck als Sklavereiapologet
Nettelbeck will sich den Lesenden gegenüber vor allem als nicht unempathischer, aber nüchtern räsonierender Experte des Versklavungsatlantiks inszenieren, als imaginärer Geheimer Kolonialrat gleichsam mit Seemanns- und Kommerziantenwissen aus erster Hand ― Dabei offenbart sich unweigerlich jedoch vor allem das zutiefst atlantisierte Bewusstsein des gealterten Kolbergers. Hinsichtlich des Versklavungshandels wenig überraschend agiert Nettelbeck so gegenüber den Lesenden vor allem als Apologet seiner einstigen Auftraggeber, Partner und Kunden, darunter mit dem Rotterdamer Handelshaus „Coopstad & Rochussen“ einer der mächtigsten Akteure in den niederländischen Versklavungsnegotien des 18. Jahrhunderts.
Deutlich wird dies etwa, wenn er die systematische Gewalt während der Slavings, Castings und der Passagen zu bloßen Einzelfällen erklärt; wenn er von der Möglichkeit humaner Versklavungspraxis spricht, mit gütigen Eignern und anhänglichen Versklavten an den Flussläufen des Hinterlandes ― bis hin zur offenkundigen Verklärung realer Gewaltverhältnisse auf den Plantagen, wenn er des Pallaks Rückkehr nach Europa 1759 mit der Beschreibung einer angeblich tränenreichen Verabschiedung durch dessen Versklavte verknüpft, 400 an der Zahl, gipfelnd in der Behauptung: „Dürfte man voraussetzen, daß das Schicksal allen N*-Sklaven in den Colonien einen so menschlich-denkenden Gebieter [wie Pallak, d. V.] zutheilte, so würde das so laut erhobene Geschrei über die himmelschreiende Ungerechtigkeit des mit ihnen betriebenen Handels viel von seinem Nachdruck verlieren“. ― Des Handels wohlgemerkt, der Sklaverei als solcher, wie vorerwähnt, ohnedies nicht. An die Stelle des so schlecht beleumundeten Sklavenhändlers ― Nettelbeck kennt fast jede Phase des Slavings und schildet sie dem Publikum ausgiebig – trete nun der Typus des paternalistischen Versklavers. Einem gütigen preußischen Gutsherren gleich reitet er vor dem inneren Auge der Lesenden über wohlgeordnete Plantagen dahin.
Aufstand der Versklavten am Berbice 1763
Doch das guianische Sklavenidyll im „Abendroth“ eines Achtzigjährigen trügt. Nur rund drei Jahre nach Nettelbecks und Pallaks Überfahrt gen Holland bricht am benachbarten Berbice der bis dato größte Aufstand Versklavter in Südamerika. Über die Gebiete längs des Corantijn droht die Rebellion auch nach Suriname überzugreifen. Der Fluss wird ab 1763 zum Aufmarschgebiet der Niederländer für Verstärkungen und Patrouillen und zum Operationsgebiet eines der Anführer der Aufständischen, Coffij (Cuffy). Schätzungen zufolge kommen rund 1.800 Versklavte bei diesem Aufstand ums Leben. Von dieser massenhaften Auflehnung Versklavter gegen ihre selbst ernannten „Herren“ und „Meister“ weiß Nettelbeck seinen Lesern an dieser Stelle nichts zu berichten.
Er erwähnt die Rebellion am Berbice wenig überraschend auch nicht in seinen Eingaben an das preußische Herrscherhaus. Es ist nahezu ausgeschlossen, dass er hiervon keine Kenntnis besaß, zumal er 1773 ja, wie erwähnt, nochmals mit einem Sklavenholer aus Westafrika in der Flussmündung des Corantijn vor Anker geht und später auch selbst am Berbice zum Verkauf Versklavter anlangt.
Der Verborgene Atlantik
Nettelbeck Sklavereiapologie und seine implizite Strategie der Beschweigung orientiert sich, wie vorerwähnt, unmittelbar an den veränderten politischen Realitäten des Atlantiks zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Zentral steht dabei die formelle Ächtung des transatlantischen Versklavungshandel wenige Jahre vor Abfassung der „Lebensbeschreibung“. Zunächst mit dem Interdikt des atlantischen Versklavungshandels in Dänemark und Großbritannien 1803/1807; sodann im Februar 1815 mit der symbolpolitischen Erklärung der europäischen Großmächte, darunter Preußens, für eine allgemeine Aufhebung des Versklavungshandels. Dessen ungeachtet und vor diesem Hintergrund klandestiniert sich der Versklavungshandel nun, sucht sich in Schweigen zu hüllen, wird zu einem euro-amerikanischen Atlantik des Schmuggels und der papiernen Verfälschung.
Die Rechtsinstitution der Sklaverei und eine auf Versklavung basierende Plantagenökonomie bestehen in Westindien ohnedies noch jahrzehntelang fort: in Britisch-Guyana etwa, welches unter anderem die Gebiete der 1791 aufgelösten „Sozietät von Berbice“ umfassen wird, faktisch bis 1838; im benachbarten niederländischen Suriname realiter gar bis 1873. In ihren Verbindungen mit den nordwesteuropäischen und -deutschen Atlantikhäfen verbleibt auch Nettelbecks Heimatregion an der Ostsee als Profiteur der Versklavung im Kolonial- und Spezereienhandel des ersten globalen Weltsystems; insbesondere über Danzig und Königsberg als Schiffsausrüster, als Zulieferer und Absatzmarkt und nicht zuletzt auch als Rekrutierungsraum für Arbeitsmigranten in maritime Ökonomien, in überseeische Militär- und Verwaltungsapparate, in die Welt des Verborgenen Atlantiks.
Der Überpatriot von Kolberg
Zu Beginn der 1820er-Jahre soll Nettelbeck verlegerseitig aber nicht einfach nur eine preußische Seemannsbiografie präsentieren; exotisierend angereichert mit „afrikanischen Abentheuern“, wie er seine Berichte über die Versklavungspraxis zwischen Guineaküste, Sint Eustatius und Suriname euphemistisch nennt. Dass er sich überhaupt so weitläufig über seine Fahrenszeit äußern kann, hat seine Vorausbedingung in gänzlich anderen Begegnissen und Regionen: Nettelbecks legendarischer Führungsrolle nämlich bei der Belagerung Kolbergs 1807 gegen die napoleonischen Truppen ― als Stadtältester, siebzigjährig und für seine Zeitgenossen schon etwas greisenhaft, dennoch „ein Muster wahrer Vaterlandsliebe“, wie es bereits in einer Schrift zu seinen Ehren aus dem Kriegsjahr 1808 heißt. Sie tritt schließlich im dritten Band seiner „Lebensbeschreibung“ vor die geduldig harrende Leserschaft. Und es ist eben jene „Celebrität“ Nettelbecks als Prototyp des preußisch-deutschen Patrioten, welche publizistisch, literatur- wie sozialgeschichtlich, gewissermaßen erst Raum für die verlegerische Kuriosität einer preußisch-atlantischen Seemannsbiografie des 18. Jahrhunderts geschaffen hat ― von ihm höchstselbst beglaubigt und gerechtfertigt auf 775 Seiten.
Die französische Plantagenkolonie Cayenne als Kriegskompensation
Das Seemännische, das Merkantile und Atlantische verbleiben jedoch, aller medialen Prominenz unerachtet, als Kern der Nettelbeck’schen Alters- und Berufsidentität. Bis zuletzt kreist Nettelbeck in der kriegsmüden pommerschen Provinz um Fragen preußischer Seegeltung und wehrhafter Handelspolitik: 1814 nutzt er seine neuen politischen Verbindungen als preußisch-deutscher „Volksheld“ für ein weiteres Gesuch am Hofe, um Kolonialbesitz für Preußen zu erlangen. Nunmehr fordert er als französische Kriegskompensation unter anderem die östlich von Suriname gelegene Plantagenkolonie Cayenne im heutigen „Französisch-Guayana“ für das Königreich. Deren koloniale Inwertsetzung könne zukünftig eine preußische Aktiengesellschaft besorgen. Nettelbecks innigster Wunsch: das erste preußische Schiff nach diesen antillianisch-guianischen Gestaden unter dem Schwarzen Adler noch selbst steuern zu dürfen. „Zweifle Niemand, daß ich mir in diesem letztern Erbieten nicht treulich Wort gehalten hätte!“ Über den Atlantik hin muss es wie eine Drohung geklungen haben. Doch die preußische Ministerialbürokratie zeigt neuerlich kein Interesse. Nettelbecks Rufe vom Ausguck in die koloniale Zukunft bleiben einstweilen noch ungehört.
Nettelbeck als „Vorkämpfer für eine Deutsche Kolonialpolitik“
Als kolonialpolitische Referenz taugt Nettelbeck erst in den 1880er-Jahren wirklich. Seine volkstümliche, selbst mit antisemitischen Verweisen gespickte Patriotenbiografie erfährt zwar noch über den Vormärz hinaus weitere Auflagen; und auch der beträchtliche Erfolg des Paul-Heyse-Dramas „Colberg“ ab 1865 hält die Erinnerung an Nettelbeck in besonderer Weise lebendig. Doch erst die machtstaatlichen Bestrebungen des deutschen Imperialismus und seiner Koloniallobby geben der atlantisch-kolonialistischen Seite des Kolbergers den nötigen Resonanzraum. In diesem borussisch-deutschnationalen Kolonialnarrativ, welches sich nach der Reichsgründung medial noch stärker formiert, verknüpfen sich der Compagnie-Kolonialismus des Großen Kurfürsten und Nettelbecks merkantiles Antichambrieren mit der epochemachenden Kolonialallianz des Kaiserreichs. Exemplarisch zeigt dies etwa ein Beitrag der „Deutschen Kolonialzeitung“ 1886 zu Ehren Nettelbecks, die ihn als „Vorkämpfer für eine Deutsche Kolonialpolitik“ zu feiern sucht.
Joachim Nettelbeck in der Gedenkkultur des Kaiserreichs
Als Überpreuße ohnedies, in interessierten Kreisen auch als früher Kolonialvisionär, findet Nettelbeck nun tiefer in das öffentliche Gedenken des Kaiserreichs. 1884 wird Nettelbeck hauptstädtisch gleichsam in Mosaiksteinen eingeschreint: Im aufstrebenden Gewerbeviertel des Berliner Wedding benennt man einen Platz nach dem berühmten „Bürgerrepräsentanten“ der belagerten Kolberger. 60 Jahre nach seinem Ableben. Zwar erfolgt diese Auszeichnung 1884 gleichsam im Schlüsseljahr des deutschen Kolonialismus, doch stehen seine „Verdienste“ während der Belagerung Kolbergs für die Stadtoberen bei der kommemorativen Namensgebung mutmaßlich noch im Vordergrund. ― Doch lässt sich der „Verteidiger von Colberg“ unmöglich vom atlantischen Sklavenhändler und Vorzimmerer eines preußisch-deutschen Kolonialismus ablösen. Nettelbeck hat es mit seiner atlantisierten Autobiografie auch selbst nie anders gewollt. Bis in seine letzte Lebensspanne verbleibt er in den Rechtfertigungstopoi des europäischen Kolonialismus.
Der atlantische Sklavenhändler und die Barbaresken – letzte Abwehrmanöver
So beklagt ausgerechnet der Verfechter preußischer Plantagenkolonien und Sklavenfestungen auf den letzten Seiten seiner Autobiografie mit unverkennbarer Larmoyanz und Perfidie in Anbetracht beständiger Zurückweisungen durch das Herrscherhaus: „Wann will und wird bei uns der ernstliche Wille erwachen, den afrikanischen Raubstaaten ihr schändliches Gewerbe zu legen, damit dem friedsamen Schiffer, der die südeuropäischen Meere unter Angst und Schrecken befährt, keine Sklavenfesseln mehr drohen? Wenn ich das noch heute oder morgen verkündigen höre, dann will ich mit Freuden mein lebenssattes Haupt zur Ruhe niederlegen“. ― Nettelbeck spricht hier von den sogenannten „Barbareskenkriegen“ westeuropäischer Seemächte und der Vereinigten Staaten gegen die mittelmeerische Piraterie.
In deren Folge kommt es zum ersten überseeischen Militäreinsatz der USA 1805 vor der Küste Tripolis. 1815 ruft ein Lübecker Gymnasialprofessor die Europas Fürsten gar zur Beherrschung der nordafrikanischen Küsten durch einen paneuropäisch-christlichen Ritterorden auf. In Hamburg formiert sich obendrein 1819 ein „Antipiratischer Verein“, gleichfalls zwecks Bekämpfung nordafrikanischer Korsaren, an welchem Aktivitäten auch Nettelbeck selbst noch geistig Anteil nimmt. ― Und 1830 schließlich beginnt mit deutlich weniger norddeutschem Pathos die brutale Eroberung Algeriens durch das Frankreich der späten Restauration. Nettelbecks Lebensbeschreibung endet mit eben diesen Worten über die „friedsamen Schiffer“ Europas, einem bigotten Verweis auf die sogenannte „weiße Sklaverei“ entlang der nordafrikanischen Küsten. ― Ein letztes Abwehrmanöver des atlantischen Preußen und einstigen Sklavenhändlers auf dem Ozean der Erinnerung.
Seeräuber am Tejo
― Trügerischer Atlantik: Einmal, in den 1780er-Jahren, vermeint Nettelbeck gar selbst, Opfer eines Versklavers zu werden: Auf einer Handelsfahrt zwischen Hamburg und Lissabon begegnet sein Schiff an der Mündung des Tejo unvermittelt einem Barbaresken-Korsaren, so glaubt Nettelbeck zumindest. Er gibt Alarm, befiehlt zu den Waffen und will der Mannschaft bei dieser Gelegenheit kampfesbereit zugerufen haben, er zöge lieber den Tod vor, als sich „zeitlebens in der Sklaverei unter die Peitsche zu ducken.“ Der vermeidliche Seeräuber erweist sich als portugiesischer Fischer, der Lotsendienste anbieten will. Nettelbeck und seine Mannen bleiben freie Völkerrechtssubjekte der Weltmeere.
Nettelbeck im Geburtsjahr des deutschen Kolonialismus 1884
Gerade in diesen paneuropäischen Zivilisierungs- und De-Souveränisierungsdiskursen zeigt sich die kolonialpolitische Anschlussfähigkeit der Nettelbeck’schen Atlantisierung auch Jahrzehnte später: Denn die Deutsche Kolonialzeitung weiß Nettelbecks anti-sklavistische Scheinheiligkeit 1886 freudig aufzugreifen und sekundiert dem Kolberger: „Den einen seiner Herzenswünsche hat die ihm folgende Generation schon in Erfüllung gehen sehen: Die afrikanischen Raubstaaten sind zahm gemacht worden, so zahm, daß sie sich selbst schier des Geraubtwerdens nicht mehr erwehren können. Das Glück aber, den Beginn der glanzvollen und segenbringenden Durchführung des zweiten [den wie auch immer gearteten „Erwerb“ von Kolonien, d. V.] zu erleben, ist uns zu teil geworden.“ Das Hausblatt der einflussreichen Deutschen Kolonialgesellschaft referenziert hier auf die Annektierung afrikanischer Küstenstreifen im Geburtsjahr des deutschen Kolonialismus 1884; unter anderem im heutigen Togo, rund 200 Seemeilen östlich der einstigen brandenburgisch-preußischen Versklaverfestung Gross Friedrichsburg. In der Veste Friedrichsburg werden im gleichen Jahr gemäß Auftrag der Kaiserlichen Admiralität sechs gusseiserne Kanonenrohre geborgen und von der nunmehr Britischen Goldküste ins Berliner Zeughaus verbracht. ― Joachim Nettelbeck hätte sie vermutlich noch mit dem letzten preußischen Geisterschiff persönlich über den Atlantik geschippert ― wäre er doch nur gefragt worden. Stattdessen wird er zwischen 1943 und 1945 gleichsam in Heinrich George inkarnieren müssen, in dem berüchtigten NS-Durchhaltefilm „Kolberg“. Doch auch dieser „Auftritt“ des Verteidigers von Kolberg markiert nicht das Ende deutscher Nettelbeck-Verehrung.
Im Land der Nettelbeckstraßen
2019 zählen antikolonialistisch und zivilgesellschaftlich Aktive noch ganze 21 bundesrepublikanische Straßenbenennungen zu Ehren des bislang bekanntesten deutschen Sklavenhändlers. Ihre Zahl hat zwar inzwischen abgenommen, doch noch immer erfährt der vermeidliche „Volksheld“ öffentliche Ehrungen in mehreren deutschen Städten. Am Weddinger Nettelbeckplatz indes ist es bald vorbei mit derlei Kommemorationen. Bereits im August 2021 hatte das Kommunalparlament des Berliner Bezirks Mitte, die Bezirksverordnetenversammlung, eine Umbenennung des 2500 m² großen Areals beschlossen. Bis zum 24. April haben die Bürgerinnen und Bürger des Weddings nun Zeit, geeignete Alternativnamen einzureichen. Neben vielen nicht ernst gemeinten und solchen mit unverhohlen rechtspopulistischem Bezug sticht vor allem ein Vorschlag besonders hervor: Vorschlag Nr. 16457, welcher den weitläufigen Ort in „Martha-Ndumbe-Platz“ umbenennen will.
Martha Ndumbe ― ermordet im Konzentrationslager Ravensbrück
― Martha Ndumbe wurde 1902 als Tochter eines Kameruners und einer Berlinerin an der Spree geboren und Anfang 1945 im Konzentrationslager Ravensbrück ermordet. Zu ihrem Gedenken wurde 2021 an ihrer letzten Weddinger Wohnanschrift ein Stolperstein gesetzt. Der britische Historiker Robbie Aitken, Spezialist für die Geschichte Schwarzer Communitys in Deutschland zwischen 1884 und 1960, konnte im Zuge dessen bereits wichtige Stationen ihrer Lebensgeschichte rekonstruieren. In ihrer Biografie verbinden sich die destruktiv-eliminatorischen Wirkweisen des deutschen Kolonialrassismus und der NS-Rassenideologie mit der Lebensrealität proletarischer Frauen in Deutschland während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Kontroverse um Erfurter „Nettelbeckufer“
Andernorts bleibt der Umgang mit dem sklavistisch-kolonialistischen Erbe in den deutschen Landen jedoch weit stärker umkämpft. In Erfurt auf besonders groteske Weise: Nach einem Beschluss des Erfurter Stadtrates im März 2023 soll der dortige Straßenname „Nettelbeckufer“ nun ausdrücklich nicht geändert werden, Straßenschilder mit der Aufschrift „Nettelbeckufer“ jedoch künftig mit einem Zusatzschild versehen werden. Ein offenbar noch unbewohnter Teil der Karlstraße zwischen Adalbertstraße und Nettelbeckufer indes wird, so die „Empfehlung“ des Stadtrates an die Erfurter Straßennamenkommission, nach einem Schwarzen Opfer rassistisch-eliminatorischer Verfolgung durch das NS-Regime benannt werden: Gert Schramm (1928 – 2016).
Schramm, gebürtig in Erfurt und Sohn des in Auschwitz ermordeten Afroamerikaners Jack Bransken, überlebte als Jugendlicher das Konzentrationslager Buchenwald mithilfe insbesondere kommunistischer Gefangener und wurde nach seiner Befreiung im April 1945 zunächst durch die US-Armee versorgt. Die Initiative „Decolonize Erfurt“, die nachdrücklich für eine vollständige Umbenennung des „Nettelbeckufers“ zugunsten Gert Schramms plädiert, bezeichnete den Beschluss des Erfurter Stadtrates in einer Stellungnahme im März völlig zu Recht als „Schande“ für die Stadt.