Start Politik Boris Johnson, Prinz Charles und die britische Sklavereigeschichte

Boris Johnson, Prinz Charles und die britische Sklavereigeschichte

Boris Johnson vor seiner Londoner Wohnung, 22.03.2023
Boris Johnson am 22.03.2023, rund ein halbes Jahr nach seinem Rücktritt als britischer Premierminister im Zuge der „Partygate“-Affäre. Britanniens skandalumwitterter Ex-Premier begibt sich an diesem Tag von seiner Londoner Wohnung aus zu einer erneuten Anhörung vor dem "Committee of Privileges" im britischen Unterhaus. Bild: IMAGO / ZUMA Wire

Der „Partygate“-Premier: Fehltritte und Skandale begleiteten die politische Karriere des Boris Johnson bis zu dessen unrühmlichen Ende als britischer Premierminister im September 2022. Nicht minder berüchtigt sind Johnsons rassistische Invektiven in Wort und Schrift; gleicherweise seine polemischen Einlassungen zur angeblichen Glorie britischer Kolonialgeschichte, gleichsam als impliziter Teil seines sozialintegrationistischen „One-Nation-Konservatismus“. Dem Publikum vielfach vorgetragen im Rahmen publizistischer Beiträge. Rund 20 Jahre währte die engere tagesjournalistische Karriere des gebürtigen New Yorkers. Medial verfolgt den ehemaligen britischen Premierminister lange Zeit vor allem ein entwicklungspolitisches Meinungsstück aus dem Jahre 2002. Entstanden für den konservativen „Spectator“ im Gefolge einer Reise mit dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen durch Uganda.

„Are we guilty of slavery? Pshaw.“

Johnson, seinerzeit als Herausgeber des Magazins fungierend und zugleich einfacher Tory-Abgeordneter im britischen Unterhaus, verkündet dort rund fünf Monate nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 etonianisch-selbstgewiss, in Uganda habe sich das Empire eigentlich nichts vorzuwerfen. „Are we guilty of slavery?“ fragt der blonde Trotzkopf damals seine Lesern, um ihnen mit einem entschiedenen „Pshaw.“ sogleich selbst die Antwort zu liefern. Einer der Verdienste des Eroberers von „Buganda“, Frederick Lugard (1858-1945), sei es schließlich gewesen, so Johnson, „arabische Sklavenhändler“ zu besiegen; solcherweise suggerierend, legendarische Kriegstaten mit Remington Rifle und Maxim-Maschinengewehr hätten hernach auch sämtliche Versklavungs-, Abhängigkeits- und Zwangsarbeitssysteme im östlichen Afrika beenden können, was sie selbstredend nicht vermochten.

Blairs Westafrika-Reise 2002

Johnson gibt seine kauzig-provokante Verteidigungsrede des britischen Kolonialismus im Februar 2002 erklärtermaßen dem seinerzeitigen Labour-Premier Tony Blair mit auf die Reise. Dieser wird sich einige Tage nach Erscheinen der Polemik eigentlich nach Westafrika begeben; auf eine Art diplomatischer Goodwill-Tour, die Blair unter anderem auch nach Nigeria, Ghana und Sierra Leone führen wird; Länder, welche auf Johnsons Karte der europäischen, der britischen Sklavereigeschichte in Afrika wenig überraschend nicht zu existieren scheinen.

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Außenminister Jack Straw über die Ausbeutung Afrikas

Überdies ist Blairs Außenminister Jack Straw ebenso wie Johnson vor Kurzem aus Ostafrika zurückgekehrt. Britanniens Chefdiplomat weilte dort unter anderem in Ruandas Hauptstadt Kigali sowie in der ugandischen Kapitale Kampala. Anlass der Reise: Gespräche über die internationale Flüchtlingskrise im Gefolge des sogenannten „Zweiten Kongokrieges“ (1998-2003). Im „Guardian“ lässt Straw anschließend vergleichsweise undiplomatisch verlauten: Europa habe keinen Kontinent so konsequent ausgebeutet wie Afrika, habe dort solcherweise also besondere moralische Verpflichtungen. ― Ein Affront für das rechtskonservative Establishment in Großbritannien, welches im Jahr zuvor neuerlich eine Mehrheit im Unterhaus verfehlte und tagesjournalistischer Ausgangspunkt für das vielleicht berühmteste Pah! britischer Post-Kolonialität.

Diskurskämpfe: Boris Johnson und der britische Kolonialismus

Johnsons Ansichten hierzu könnten gegensätzlicher nicht sein: Seine streitbare Empire-Apologie von 2002 gipfelt seinerzeit in Aussagen wie, der Kolonialismus hätte in Afrika besser gar nicht geendet und die kriegsgebeutelte Region um die Großen Seen, zwischen Albert– und Viktoriasee im Besonderen offenkundig, sei zu einem europäischen Urlaubsparadies fortzuentwickeln. Derlei Einsichten und Erkenntnisse zur britischen Kolonialgeschichte, als seien sie einem besonders pointenreichen und launigen Debattierclubabend entsprungen, müssen Johnson unweigerlich noch einige Male auf die weit gereisten englischen Meinungsstiefel fallen.

Besonders unsanft und wenig überraschend als er sich ab Juli 2007 um das Amt des Londoner Bürgermeisters bewirbt; unausbleiblich gezwungen sich für diese und ähnliche Äußerungen nun erstmalig öffentlich zu entschuldigen. ― Schließlich, als es 2020 nach der Tötung des Afroamerikaners George Floyd auch in Großbritannien zu lautstarken Protesten kommt und das Standbild eines Sklavenhändlers aus dem 18. Jahrhundert im Hafenbecken von Bristol versinkt. Mit Schaudern erinnert man sich erneut der kolonialgeschichtlichen Selbstgerechtigkeiten aus der Feder des nunmehr zum Brexit-Premier aufgestiegenen Boris Johnson. ― Wenig überraschend spricht dieser sich im Sommer 2020 für die Beibehaltung derartiger Statuen aus. In echt konservativer Manier gelten sie ihm gleichsam als Mahnmäler der Vergangenheit.

2022: Johnson und der Prinz von Wales in Ruanda

Rund 20 Jahre nach Johnsons kapriziöser Kolonialrechtfertigung, seiner diskursiven Fortsetzung des britischen Abolitionsnarrativs als Kampf gegen arabische Razziensklaverei und seiner polemischen Kritik einer angeblichen „Aid Industry“ in Uganda, kehrt „King Boris“ als Premier nach Ostafrika zurück. Im Juni 2022 begleitet Johnson den britischen Thronfolger Prinz Charles in die Hauptstadt Ruandas, nach Kigali. Anlass der Reise ist das alle zwei Jahre stattfindende Treffen der Staatsoberhäupter des „Commonwealth of Nations“, und was vor oder während dieser Reise zwischen Premier und Sukzessor besprochen worden sein soll, bewegte vor einigen Tagen Britanniens Medien und Politik.

Angeblicher Streit zwischen Charles und Premier Johnson

In einem Exklusivbericht für den „Daily Mail“ erklärte Johnsons ehemaliger Kommunikationschef Guto Harri, während der Reise nach Ruanda sei es zwischen dem Prinzen und Johnson zu einem Streit gekommen. Gegenstand der Auseinandersetzung: erneute Spannungen wegen vorangegangener Äußerungen des Missfallens durch den Thronfolger gegenüber Plänen in „No. 10“, Asylsuchende künftig nach Ruanda abzuschieben. Nebstdem sei es laut Johnsons einstigem „Spindoktoren“ um eine geplante Rede Charles‘ über ― „Sklaverei“ – gegangen.

Reparationen: Das Herzogtum Cornwall für den britischen Sklavereiatlantik?

Der Premierminister habe den Thronfolger von diesem Ansinnen jedoch unbedingt abbringen wollen, so Harri in der „Daily Mail“; ihn gewarnt, der Prinz solle lieber vorsichtig mit derlei Einlassungen sein, andernfalls das Herzogtum Cornwall womöglich verkauft werden müsse, des Fürsten milliardenschwerer Privatbesitz also. All dieses, um etwaige Reparationsanforderungen an die Krone für jene abzugelten, welche das königliche Herzogtum eigentlich erwirtschaftet hätten. Der Streit habe nachfolgend einen tiefen Bruch zwischen Charles und Boris Johnson verursacht, so der ehemalige „Director of Comms“. Guto Harri, welcher Johnson bereits in dessen Amtszeit als Londoner Bürgermeister gedient hatte, war im Februar 2022 als Kommunikationsverantwortlicher in die Downing Street gelangt ― nachdem er zuvor seinen Posten als Moderator im rechtsgerichteten TV-Nachrichtensender „GB News“ verloren hatte; im Gefolge massiver Zuschauerproteste im Zuge eines spontanen, anti-rassistisch intendierten Kniefalls Harris während einer Sendung über anti-Schwarze Diskriminierung in Englands Fußballnationalmannschaft.

Guto Harris Podcast über seine Zeit in der Downing Street No. 10

Die vermeidlichen Enthüllungen über den Ruanda-Zwist dürfen dessen ungeachtet mit Skepsis begegnet werden ― Guto Harri promotet mit dem medienwirksamen Durchstich zunächst vor allem eine neue Podcast-Serie für die Audio-Plattform des britischen Medienkonzerns „Global“, der unter anderem das populären Londoner Talkradio „LBC“ betreibt. „Unprecedented: Inside Downing Street“, so der Titel der Reihe. Doch im Mindesten der konservativen „Daily Mail“ erschienen sie glaubwürdig.

Johnson selbst kommentierte den angeblichen Streit mit dem Prinzen während ihrer beider Ruanda-Reise bisher nicht direkt. Eine ihm nahestehende Quelle ließ jedoch verlauten, Johnson bezeichne die Darstellung als schlicht falsch.

„Persönlicher Schmerz“: Prinz Charles über die Sklaverei, 2022

Charles scheint ohnedies von derlei zynisch-sozialkonservativen Drohgebilden seines Premierministers, sofern sie überhaupt in dieser Weise geäußert wurden, nicht verunsichert gewesen zu sein, rekurriert er doch am 24. Juni 2022 tatsächlich auf die unleugbare Gewaltdimension britischer Kolonial- und Sklavereigeschichte in seiner Rede vor den Staatsoberhäuptern des Commonwealth. Er tut dies gleichwohl nur verklausuliert und ohne sich formell zu entschuldigen. Verweisend auf die „leidvollen“ historischen Wurzeln der Commonwealth-Gemeinschaft spricht er von einem „persönlichen Schmerz“ in Angesicht des Leides so vieler und einem kontinuierlichen Lernprozess seinerseits über die historischen Tiefenwirkungen der Sklaverei. Die Zeit diskursiver, gesellschaftlicher Verständigung, eine „Conversation“ hierüber, sei nun gekommen, so der Thronfolger in Kigali unmissverständlich.

Verbrechen der Versklavung: Reparationsforderungen

Einen raschen Beginn dieser Debatte mahnten im Vorfeld der Krönung Charles III. auch indigene Lobbygruppen und post-sklavistische Reparationskomitees aus 12 ehemaligen britischen Kolonien in einem gemeinsamen Statement an; verbunden gleichwohl mit der Forderung nach Entschädigungsleistungen und der Rückgabe indigener Kulturgüter und Artefakte aus britischen Museen.
― Etwa 3,4 Millionen Afrikaner sollen allein bis 1807 durch britische Kaufleute versklavt und über den Atlantik verschleppt worden sein. Und die Folgewirkungen dieser Versklavungsgeschäfte für die britisch-atlantische Gesellschaft, Kultur und Zivilisation, ihre ökonomische und soziale Verfasstheit, reichen zweifelsohne weit tiefer, als es die Diskussionsstände im Vereinigten Königreich zuweilen vermuten lassen.

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