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Die Geschichte der Karibikinsel Nevis

Nevis ist ein 93 km² großes Vulkaneiland im Nordosten der Kleinen Antillen. In vorkolonialer Zeit leben auf der Luvseite der Insel marikulturelle Indigene in küstennahen Kleinsiedlungen. Anfang des 17. Jahrhunderts ist Nevis noch dicht bewaldet. Englische Seefahrer nutzen die Insel in dieser Phase insbesondere zum lukrativen Pockholzschlag und zur Verproviantierung. 1603 etwa macht auf Nevis eine Suchexpedition für Überlebende der Roanoke-Kolonie Station; 1607 gehen die späteren Gründer von Jamestown bei Nevis vor Anker. Infolge von Sklavenrazzien und Seuchen ist die indigene Bevölkerung der Insel vermutlich schon zu dieser Zeit weitgehend dezimiert oder nach umliegenden Inseln geflohen.

Nevis als englische Pflanzerkolonie im 17. Jahrhundert

1628 lassen sich auf dem Eiland erstmalig englische Kolonisten nieder. Sie stammen von der nur drei Kilometer entfernten Mutterkolonie St. Kitts. Auf Nevis entsteht zunächst eine Pflanzerkolonie aus freien Landbesitzern, Pächtern und ihren Knechten; Letztere sind durch mehrjährige Arbeitsverträge an die Kolonisten gebunden und können nach Ablauf ihrer Dienstzeit auf eigene Landparzellen hoffen. Das Arbeitsreglement der Knechte ist überaus hart; viele überleben ihre Dienstzeit nicht. Das System der „Indentured Servants“ erreicht während der 1660er Jahre auf Nevis seinen Höhepunkt und sorgt zunehmend für soziale und ethnoreligiöse Spannungen, namentlich mit Nevis´ irisch-katholischen Vertragsknechten. Dem wachsenden Unfrieden sucht man bereits 1657 durch eine Umsiedlungsaktion nach Jamaika Herr zu werden.

Nevis und der Zuckerrohranbau

Wird auf den fruchtbaren Vulkanböden der Insel anfänglich vor allem Tabak und Kattun angebaut, beginnt die angloprotestantische Pflanzerelite Nevis‘ ab den 1650er Jahren bereits mit der Kultivierung von hochwertigem Zuckerrohr. Schon in den 1670er und 1680er Jahren können die Pflanzer bis zu zweitausend Tonnen jährlich nach England exportieren; die Zuckerrietplantagen der Insel winden sich allmählich bis hinauf nach der Spitze des „Nevis Peak“, einem 985 Meter hohen Vulkankegel im Zentrum der Insel. Um 1700 stammen etwa 20 % der Zuckerproduktion der „English Caribees“ von dem westindischen Eiland.

Sklaverei auf Nevis

Der expansive Zuckerrohranbau hat unmittelbare Folgen für das Arbeitsregime der Karibikinsel: Bereits ab Mitte der 1660er beginnen Nevis‘ Plantagenhalter versklavte Afrikaner als Arbeitskräfte einzusetzen. 1678 stellen afrikanischstämmige Sklaven schon rund die Hälfte der nevisischen Bevölkerung. Die Lebensbedingungen der Sklaven sind äußerst brutal; ein drakonisches Strafregiment, permanente Arbeitserschöpfung und häufige Mangelerkrankungen sorgen für konstant hohe Sterbeziffern unter den Versklavten. Möglichkeiten zur Marronage, zur Flucht in das bergige Innere der Insel, schützen aufgrund der geringen Größe Nevis‘ ohnedies nicht dauerhaft vor Verfolgung. Eine Flucht auf benachbarte Inseln ist wenig aussichtsreich; zudem droht den Sklaven Verschleppung bei Angriffen durch raubfahrende Konkurrenten der Engländer. Unweigerlich ziehen Nevis‘ Wohlstand und seine zeitweilige Funktion als Drehkreuz des englischen Sklavenhandels derlei Plünderungsaktionen regelmäßig an — ungeachtet aller Verteidigungsanstrengungen durch die Siedler. Der Besitz des Eilands ist zudem immer wieder Faustpfand in den Ränkespielen europäischer Diplomaten während der karibischen Seekriege ab den 1660er Jahren.

Französische Invasion 1706: Nevis im Spanischen Erbfolgekrieg

Zu einer besonders folgenschweren Plünder- und Kaperattacke kommt es während des Spanischen Erbfolgekrieges, als die englische Plantagenkolonie im April 1706 einer französischen Invasion zum Opfer fällt. 18 Tage währen die Kämpfe auf der Zuckerinsel zwischen französischen Bukanieren, Inselmilizen und bewaffneten Sklaven. Von den Verwüstungen und der Verschleppung von über 3.000 versklavten Afrikanern kann sich Nevis ökonomisch nie wieder ganz erholen. Ein massiver Bevölkerungsrückgang und nachfolgende Naturkatastrophen schwächen die nevisische Plantagenwirtschaft noch um ein Weiteres. Die lokale Zuckerproduktion erreicht erst rund 80 Jahre später wieder das Niveau der Vorkriegszeit.

„Pflanzeraristokratie“ im 18. Jahrhundert

Von den Folgen des Spanischen Erbfolgekrieges erholen sich längerfristig nur Nevis‘ kapitalstarke Großgrundbesitzer. Ende des 18. Jahrhunderts stellt diese schmale „Pflanzeraristokratie“ zwar nur 10 % der Bevölkerung, herrscht jedoch gewaltsam über rund 10.000 auf Lebenszeit versklavte Afrikaner. Treffpunkte der weißen, zumeist englischstämmigen Pflanzerelite sind Nevis‘ vulkanische Heilquellen am „Bath Hotel“ von Charlestown, dem Hauptort der Insel, und die Herrenhäuser der „Master“ im Hinterland. In diesem sozialen Milieu wächst etwa der spätere erste Finanzminister der Vereinigten Staaten, Alexander Hamilton (1757-1804), auf; und vermählt sich Großbritanniens legendärer Seeheld Horatio Nelson (1758-1805) standesbewusst mit einer reichen nevisischen Pflanzertochter.

Wirtschaftskrise im 19. Jahrhundert

Die jahrzehntelang währenden atlantisch-karibischen Revolutionskriege stürzen Nevis‘ Pflanzeraristokratie schließlich in eine tiefe Krise. Hurrikankatastrophen sowie chronisches Missmanagement als Folge des verbreiteten Absentismus, nebstdem der Aufstieg der europäischen Zuckerrübe, ein volatiles Preisgefüge auf dem Weltmarkt und schließlich das formelle Verbot des atlantische Sklavenhandels ab 1807 ruinieren allmählich die sensible Finanzstruktur vieler Plantationen. Versuche der Zuckerbarone, durch Rationalisierungsmaßnahmen, etwa dem Einsatz von Dampfmaschinen in den Zuckermühlen, wettbewerbsfähig zu bleiben, scheitern vielfach.

Abolition: Abschaffung der Sklaverei in Britisch-Westindien 1833

Derweil antichambriert Britanniens wohlorganisierte „Westindien-Lobby“ ganz im Sinne der karibischen Zuckerbarone und sucht einen komfortablen Ausweg aus der wirtschaftlichen Schieflage. So wird die 1833 verkündete Abschaffung der Sklaverei für Britisch-Westindien nicht allein an enorme staatliche Ausgleichszahlungen für die Pflanzer geknüpft; überdies sind auch Nevis‘ rund 8.800 ehemalige Sklaven für die Dauer von fünf Jahren zur Lohnarbeit auf den Plantagen ihrer einstigen „Herren“ verpflichtet (Apprenticeship).

Niedergang der nevisischen Plantagenwirtschaft

Den Niedergang der nevisischen Plantagenwirtschaft können auch diese Maßnahmen nicht aufhalten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sind viele nevisische Zuckergüter in Baumwollpflanzungen umgewandelt, verkauft, brachliegend oder werden von der darbenden Bevölkerung zur Subsistenz genutzt. In den 1930er Jahren müssen viele der inzwischen verfallenen Güter wegen ausgebliebener Grundsteuern von der britischen Kolonialverwaltung kurzerhand sogar eingezogen werden.

Kontraktarbeiter, Arbeitsmigration

Versuche, Kontraktarbeiter nach Nevis zu locken, gelingen nur unzureichend; nur wenige verarmte Bauern aus Madeira wollen sich auf der Karibikinsel niederlassen. Die ehemaligen Sklaven und ihre Nachfahren indes zieht es nicht selten in die weite antillianische Inselwelt oder nach Nordamerika. Dort verdingen sie sich etwa als einfache Landarbeiter oder Seeleute. In der Folge erlebt Nevis neuerlich einen rapiden Bevölkerungsverlust. Das wirtschaftliche Überleben der Inselgemeinschaft sichern fortan lediglich Auslandsüberweisungen der nevisischen Diaspora und eine wenig konkurrenzfähige Baumwollmonokultur; als Handelsgewächs zeitweilig emsig gefördert durch die britische Kolonialverwaltung.

Nevis wird von St. Kitts aus verwaltet

Der wirtschaftliche Bedeutungsverlust führt alsbald auch zu politischer Marginalisierung der Insel innerhalb der „British Westindies“ und seiner föderativen Verwaltungsstruktur seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Bereits ab 1883 wird Nevis der Verwaltung des benachbarten St. Kitts unterstellt. Die westliche Nachbarinsel wird nun auch das bevorzugte Ziel britischer Infrastruktur- und Industralisierungsmaßnahmen; das Empire fördert dabei insbesondere den Erhalt eines extensiven Zuckerrohranbaus auf St. Kitts. — Für den karibischen Insularismus typische politisch-ökonomische Disparitäten und Rivalitäten nehmen hier ihren Ausgang.

„Saint Christopher-Nevis-Anguilla“, St. Kitts und Nevis 1983

Dieser Vorrangstellung St. Kitts‘ entspricht auch die zentrale politische Position Basseterres innerhalb der 1967 begründeten Assoziation von „Saint Christopher-Nevis-Anguilla“. Während sich Anguilla aus diesen Strukturen nach einer schweren Krise zwischen 1967 und 1969 (Republik Anguilla) alsbald herauszulösen vermag, werden St. Kitts und Nevis als Föderation 1983 schließlich unabhängig von Großbritannien. Zwar erhält Nevis nun wieder ein eigenes Regionalparlament, verbleibt aber noch lange Zeit in verfassungs- und steuerpolitischem Zwist mit dem dominanten Föderationspartner St. Kitts.

Nevis: Tourismus und Offshore-Banking

Weiter angetrieben werden diese Konflikte durch Versuche der Zentralregierung in Basseterre, Nevis als Offshore-Finanzplatz zu regulieren. Ein auch vor diesem Hintergrund angestrengtes Unabhängigkeitsreferendum scheitert zwar 1998. Seither konnten politische Reformen und wirtschaftliche Fördermaßnahmen, insbesondere in die Verkehrsinfrastruktur und den Tourismussektor Nevis‘, die Spannungen mit Basseterre jedoch abbauen. Innerhalb der Föderation verfügt Nevis mit seinen rund 11.000 Einwohnern heute über weitreichende innere Autonomie.